Sie hätte Jeanne erschlagen können. So ein verdammter Leichtsinn.
Mona ließ den Scheibenwischer schneller laufen. Hoffentlich hörte es bald auf zu schneien, sonst würde sie nie bei Jeanne ankommen. Sie wollten ins Guevara. Tanzen.
Gestern allerdings hatte Mona den ganzen Abend im Guevara mit Kopfschmerzen auf einer Bank gehockt. Als sie schlechtgelaunt beschloss, nach Hause zu fahren, hatte Jeanne noch bleiben wollen.
“Und wo pennst du dann?”
Angeblich waren sie auf einer Party und Jeanne schlief bei Mona. Freitag und Samstag ins Guevara, das wollte Jeannes Mutter nicht. Schließlich war ihre Tochter erst sechzehn. Mit Parties sah es anders aus, vor allem, wenn Mona dabei war. Mona war ja vernünftig. Schon neunzehn.
“Kein Problem”, hatte Jeanne gesagt. “Ich kann bei Matthias pennen.”
Matthias teilte sich ein Haus mit mehreren Freunden. Schäbig, aber gastfreundlich. Vom Guevara durch die Felder war es eine halbe Stunde und wer wusste, welches Fenster nachts nur angelehnt war, fand immer ein Plätzchen im Wohnzimmer.
“Igitt”, hatte Mona sich geschüttelt, “bei Matthias. Wo schon die Sofas immer aussehen, als freuen sie sich auf einen. Und wie kommst du dahin?”
“Stefan fährt in die gleiche Richtung.”
“Der arrogante Affe?”
“Der arrogante Affe hat ein Auto. Und er hat versprochen, mich mitzunehmen. Alles in Ordnung, Schwesterchen. Ab ins Bett, mach dir keine Sorgen.”
Sie waren keine Schwestern. Sie wären es nur gerne gewesen.
Heute Mittag hatte Jeanne angerufen.
“Was machen die Kopfschmerzen?”
“Wieder gut, danke. Wie war‘s bei Matthias? Haste Läuse?”
“Oh, äh, Matthias. Das hat nicht geklappt.”
Stefan hatte sie versetzt, dieser Idiot, war einfach ohne sie gefahren. Eine andere Mitfahrgelegenheit hatte sie auch nicht gefunden, aber sie hatte einen netten Kerl getroffen, der in die gleiche Richtung musste, also waren sie gemeinsam gelaufen.
“Durch die Felder?”
“Klar, ist kürzer. Wir sind dann aber nicht zu Matthias, weil es bis zu Reiner näher war und der meinte, ich könnte ebenso gut bei ihm pennen.”
“Jeanne, verdammt, bist du bescheuert?”
“Was denn, er ist in Ordnung. Hat eine nette Wohnung. Super schöne Möbel. Er ist nämlich Schreiner. Reiner der Schreiner.” Sie hatte gelacht. “Mona, der hat einen Schrank, der würde dir gefallen. Rot, oben rund, mit einem riesigen Spiegel vorne drauf. Und sein Bett hat er selbst entworfen.”
“Sein Bett??”
“Ja. Sieht aus, als hätte es keine Beine, weißt du, als wenn es schweben würde. Echt klasse.”
“Jeanne?!”
“He, keine Panik, Mona, ist nichts passiert. Der ist mir viel zu alt. Ich hab im Wohnzimmer geschlafen. Aber er hatte einen leckeren Wein da.”
“Warst du etwa auch noch besoffen?”
“Aber nein. Nur ganz gepflegt angeschickert.” Jeanne hatte gekichert.
Das war der Punkt, an dem Mona sie gerne erschlagen hätte.
Sie liebte Jeanne. Jeanne mit dem Koboldhaar und den glitzernden Augen, die Märchen schrieb und Steifftiere sammelte, oh Gott, diese schrecklichen Dinger. Irgendwann wollten sie zusammenziehen, aber nicht, hatte Mona erklärt, nicht unter drei Zimmern. Eins für sie, eins für Jeanne und eins für die zweihundertsechsunddreissig hässlichen Viecher. Und keine Steifftiere in der Küche.
Jeanne hatte nur gelacht, dieses fröhliche Lachen, von dem Mona sich so gerne anstecken ließ. Sorglos und unberechenbar. Manchmal wäre Mona auch gerne ein bisschen so gewesen. Nicht so ernst, so nachdenklich, nicht immer gleich so misstrauisch. Aber manchmal war Jeanne auch einfach nur leichtsinnig bis zur Dummheit. Wie konnte sie nur mit diesem Kerl...
Du hast es gerade nötig, sagte die Stimme in ihrem Kopf. Leichtsinnig, ja? Jeanne ist wenigstens nicht mit ihrem Schreiner ins Bett gegangen. Aber du? Du musstest dir damals in Frankreich ja unbedingt was beweisen. Musstest ja auch einen Freund haben im Ferienlager, so wie Cordula. Du hast es dir selbst zuzuschreiben. Und er hat dir nicht einmal gefallen. Wolltest dich nur erwachsen fühlen und begehrt, na, das hat ja auch geklappt, das mit dem Begehren. Oh ma chérie, comme je t‘aime…
Sei still, sagte Mona. Lass mich in Ruhe.
Ja, sie bezahlte für ihren Leichtsinn. Aber Jeanne würde nicht bezahlen. Nicht Jeanne.
Nach der eisklaren Kälte draußen schlug ihnen die Luft im Guevara stickig ins Gesicht. Es war laut und voll, manche der Rauchschwaden rochen nach Weihnachten. Irgendwo in der Ecke wurde gekifft. Als Mona ein Wasser für sich und ein Bier für Jeanne geholt hatte, hatte sich ein Mann zu ihrer Freundin gesellt.
“Ah, da bist du ja”, sagte Jeanne. “Hier, das ist Reiner. Reiner, das ist meine Schwester.”
Aus den Lautsprechern dröhnte ein Liedanfang.
“Oh, sie spielen Patti! Ich geh tanzen.” Jeanne irrlichterte in den hinteren Teil des Raumes und Mona stand verlegen da.
Der Schreiner sah sie an. Das blonde Haar fiel ihm bis fast auf die Schultern und sein T-Shirt war zu kurz.
“So”, sagte sie schließlich, “du bist also Reiner der Schreiner.”
Er lachte.
“Und du bist Mona, nicht wahr? Man sieht, dass ihr Schwestern seid, Jeannine und du.”
“Ach?” machte Mona und verkniff sich ein Grinsen, “sieht man das? Dann sollte ich mich wohl bei dir bedanken, dass du meiner Schwester Unterschlupf gewährt hast.”
“Oh, keine Ursache”, lächelte der Schreiner, “ich habe gerne nachts eine Frau bei mir.”
“Ich dachte, sie hat im Wohnzimmer geschlafen?” fragte Mona scharf.
“Das hat sie auch. Ich hätte sie ja in mein Bett eingeladen, aber sie war betrunken... Es wäre nicht ganz fair gewesen.”
Er lächelte fröhlich. Mona atmete langsam aus und stellte ihr Glas auf einen Tisch, damit sie es nicht in dieses Lächeln warf. Wie konnte er es wagen. Sie war immerhin Jeannes Schwester. Jedenfalls aus seiner Sicht. Gut, er hatte Jeanne nichts getan, gefährlich schien er also nicht zu sein. Aber er besaß so einen nervtötenden Charme, so eine unbekümmerte Offenheit. Und Jeanne, verdammt, Jeanne dachte so selten darüber nach, was sie tat... Wenn er ihr wehtut, bringe ich ihn um.
“Wie alt bist du eigentlich?” Es klang nicht ganz so nebensächlich, wie es sollte. Aber egal. Mochte er ruhig denken, sie ließe die große Schwester raushängen.
“Neunundzwanzig, warum fragst du?”
“Jeanne ist sechzehn”, sagte Mona.
Jetzt blickte er doch ein wenig erschrocken.
“Wirklich? Sie sieht aber älter aus.”
Das weiß ich auch, du Idiot.
“Ich habe sie nicht angefasst. Ehrlich nicht.”
“Das hättest du auch nicht überlebt”, fuhr sie ihn an.
“Es ist wirklich nichts passiert.” Er schüttelte den Kopf. “Wie machst du das?”
“Wie mache ich was?”
“Dass ich mich schuldig fühle, obwohl ich gar nichts getan habe. Wirklich nicht. Da, schon wieder. Das kommt daher, dass du so guckst. Typ strenge Gouvernante.”
“Du spinnst ja.”
Jeanne kam von der Tanzfläche zurück, legte von hinten die Arme um Mona und stützte das Kinn auf ihre Schulter.
“Und?” fragte sie. “Isser harmlos?”
Reiner grinste entwaffnend. Jetzt musste Mona doch lachen.
“Scheint so.”
Mona saß auf dem Badewannenrand und drehte das abgewetzte Handtuch zu einer dicken Wurst zusammen. Oder zu einem Strick. Verdammt, worauf hatte sie sich da eingelassen? Ob sie ihn mitnehmen könne, hatte Reiner gefragt, bei diesem Wetter habe er keine Lust zu laufen. Es schneite immer noch und seine Wohnung lag an Monas Heimweg.
“Klar. Aber Jeanne wohnt in der entgegengesetzten Richtung, also bringe ich sie zuerst heim.”
Die Straßen waren eine Katastrophe gewesen, Schneematsch und Glatteis, der Umweg zu Jeanne hatte ewig gedauert. Hätte sie bloß Reiner nicht mitgenommen, dann wäre sie über Nacht bei Jeanne geblieben, aber so musste Mona wohl oder übel weiterfahren. Als sie mit Reiner an seiner Wohnung ankam, war ihr klar gewesen, dass sie bei dieser elenden Rutschpartie noch mindestens eine Stunde bis nach Hause brauchen würde. Warum wohnte sie auch so verdammt weit draußen.
“Bleib doch einfach hier und lass uns morgen zusammen aufstehen und frühstücken”, hatte er gesagt, mit seinem fröhlichen Lächeln.
Und hier war sie also, in seinem Badezimmer, in dem T-Shirt, das er ihr geliehen hatte. Und wenn sie sich nun getäuscht hatte? Das war seine Wohnung. Und niemand wusste, dass sie hier war. Er könnte... er könnte alles tun.
Ruhig, sagte Mona zu sich selbst, bleib ruhig. Das ist Blödsinn. Er hat Jeanne nicht angefallen, warum sollte er ausgerechnet dich anfallen? Er ist harmlos. Vielleicht ein bisschen beunruhigend, aber nicht gefährlich. Du bist erwachsen. Du kannst mit ihm umgehen. Und jetzt mach, dass du aus diesem Badezimmer rauskommst.
Im Fernsehen lief ‚Spiel mir das Lied vom Tod‘. Mona lag bäuchlings neben Reiner auf dem Bett und sah zu, wie er Zigarettenpapiere aneinander klebte, zwei längs, eins quer. Sie hatte sich die zweite Decke aus dem Wohnzimmer geholt, auch wenn er meinte, sie könne ruhig ein Stück von seiner haben. Das hätte ihm so passen können. Sie wollte nicht unter seine blöde Decke.
“Magst du auch was rauchen?” Reiner drehte seinen Joint fertig.
“Nö, davon werde ich nur stumpfsinnig.”
“Stumpfsinnig?” Er lachte. “Das habe ich noch nie gehört.”
“Ist aber so. Ich sitze dann in der Ecke und starre Löcher in die Wand. Nicht besonders aufregend.”
“Aufregend finde ich es auch nicht. Eher entspannend. Ich rauche ganz gerne mal abends. Das macht ein bisschen schläfrig und schön leicht im Kopf...”
“Sag ich ja. Stumpfsinnig.”
Sie lächelte und er lächelte zurück. Nahm einen tiefen Zug und blies ihr langsam den Rauch ins Gesicht. Himmel, wie viel hatte er da reingedreht? So schwer und süß. Sie wedelte mit der Hand die duftende Wolke fort und sah ihn spöttisch den Kopf schütteln.
“Hast du denn gar kein Laster, Mona? Keinen Alkohol, keine Drogen – wie steht´s mit Sex?”
“Auch nicht”, erwiderte sie trotzig. Scheißkerl. Muss ich mich jetzt wieder rechtfertigen, ja?
“Und um gleich deine nächste blöde Frage zu beantworten: Nein, ich glaube nicht, dass ich etwas verpasse.”
Reiner blickte irritiert.
“Wie kommst du auf die Idee, dass ich das fragen wollte?”
“Weil es alle fragen. Wenn man nicht in der Gegend rumvögelt, verschwendet man ja anscheinend sein Leben.”
“Blödsinn”, sagte Reiner und zog an seinem Joint. “Du kannst doch nichts verpassen, was du gar nicht willst.”
Er stützte das Kinn in die Hand und sah auf den Fernseher, wo es, wie Mona fand, eigentlich nicht viel zu sehen gab. Sie ärgerte sich über sich selbst. Er hat dir nichts getan, also fahr ihn nicht gleich so an. Entspann dich, verdammt noch mal. Fühl dich nicht immer gleich angegriffen.
“Tut mir leid”, sagte sie zerknirscht. “Ich reagiere etwas allergisch auf das Thema.”
“Schon in Ordnung.” meinte Reiner. “Ich wollte dich nicht ärgern. Jeder, wie er mag, Mona. Wenn du etwas nicht möchtest, solltest du es auch nicht tun.”
Ein bisschen schulmeisterlich klang das ja schon.
“Tu ich ja nicht. Nur dass die meisten Männer, die ich kenne, das halt nicht verstehen.” Sie sah ihn nachdenklich an. “Na ja, vielleicht kommt das mit dem Alter.”
“Mit dem Alter? Findest du mich etwa alt?”
“Tja, hm... Jung bist du ja nicht gerade.”
Mona registrierte schadenfroh seinen leicht schockierten Gesichtsausdruck.
“Ist doch nicht so schlimm, Reiner.” Ihr Blick glitt abschätzend über seinen Körper. Ein nacktes Bein ragte unter der Decke hervor, die halbe Unterhose, ein Streifen Rücken unter dem immer noch zu kurzen T-Shirt.
“Hast dich ja ganz gut gehalten.”
“Wie bitte?”
“Recht gut gehalten. Noch einigermaßen knackig, also, für fast dreißig.”
Er sah sie empört an, dann fing er an zu lachen.
“Du vorlaute Kröte. Was hab ich mir da bloß angetan.”
Reingefallen. Mona legte zufrieden den Kopf auf die Arme und sah auf die Mattscheibe. Da passierte wirklich gar nichts. Was für ein grottenlangweiliger Film. Schlecht rasierte Männer vor schäbiger Landschaft.
“Sag mal...”, kam es von rechts, “findest du mich wirklich alt?”
“Quatsch. Jedenfalls zu jung für die Midlife-Crisis.”
Er sah sie an, mit einem leichten Lächeln, einer neckenden Herausforderung.
“Guck nicht so komisch. Was möchtest du hören? Dass du ein hübscher Kerl bist? Bist du.”
“Knackig?”
“Ja, doch.”
“Sexy?”
“Also...”
Das Lächeln wurde tiefer und da war ein Glitzern in seinen Augen. Sie war sich nicht sicher, ob ihr die Richtung gefiel.
Dünnes Eis, Mona, sagte die Stimme in ihrem Kopf. Nimm dich in Acht. Er ist nicht harmlos.
Er weiß, dass ich nicht mit ihm schlafen will.
Und wie lange, meinst du, wird er sich daran erinnern, wenn du erst einmal unter ihm liegst?
Ich liege nicht unter ihm.
Noch nicht.
Verschwinde.
Sie griff nach dem Joint, der auf dem Rand des Aschenbechers vor sich hin qualmte.
“Schau an”, sagte Reiner spöttisch.
Mona schloss die Augen und nahm einen ordentlichen Zug. Ihr blieb fast die Luft weg.
“Puh. Du bist aber ganz schön abgehärtet, was? Wenn ich dieses Ding alleine rauchen würde, könntest du mich vom Teppich kratzen.”
“Das ist keine schlechte Idee.”
“Hättest du wohl gern.”
Sie nahm noch einen Zug, dann gab sie den Joint an ihn weiter. Sie wollte nicht breit sein. Vielleicht ein ganz kleines bisschen angeduselt, aber mehr auch nicht. Schon gar nicht mit Reiner an ihrer Seite.
“Ja,” meinte er neckend, “vielleicht hätte ich das wirklich gern.”
“Vergiss es”, sagte Mona zum Fernseher, wo der Junge unter dem Galgen stand, auf seinen Schultern den Vater mit der Schlinge um den Hals. “Spiel mir das Lied vom Tod”, sagte der Badguy und schob dem Kind die Mundharmonika zwischen die Zähne.
Er lag auf einmal so dicht neben ihr, wie war er da hingekommen? Den Kopf auf die verschränkten Arme gelegt, sah er sie unverwandt an. Seine Augen schienen dunkler, ein wenig verhangen.
“Du bist bekifft”, meinte Mona trocken.
“Nur ein bisschen. Stört es dich?”
Das Kiffen nicht, dachte sie, nur dieses Lächeln, stell das gefälligst ab. Das war so verwirrend und... na gut, es war ziemlich hinreißend. Es riss sie hin, ihn zu berühren, die Haut an seinem Kinn, wo sich langsam ein paar Stoppeln zeigten, die feinen blonden Wimpern, seinen schönen Mund. Sie sah zu, wie er sich langsam aufrichtete und sich auf einen Ellbogen stützte. Etwas angeduselt musste sie wohl doch sein, denn plötzlich lag sie auf dem Rücken und er lehnte über ihr, das Haar fiel ihm wirr ins Gesicht. Hinter ihr krächzte die Mundharmonika.
“Ich kann den Fernseher nicht mehr sehen”, stellte Mona fest.
“Macht das was?”
“Eigentlich nicht.” Sie strich mit einem Finger über seine Lippen. So also fühlten sie sich an. Warm und ein bisschen rau an den Rändern.
“Also gut”, sagte sie. “Ich geb es zu.”
“Was?”
“Du bist in der Tat sexy.”
Reiner lachte.
“Und du bist auch ein bisschen breit, hm?”
“Nur ein ganz kleines bisschen...”
“...stumpfsinnig?”
“Nicht direkt.” Als sie sein Gesicht berührte, schloss er die Augen. Die Wimpern waren weich, die Lider so glatt unter ihren Fingerspitzen. Auf der einen Wange spürte sie eine Unebenheit, wie eine kleine Narbe. Das Kinn fühlte sich stoppelig an, darunter wurde die Haut weicher, nur über dem Kehlkopf war sie straff gespannt...
“Wenn du mich noch ein bisschen länger verführst, werde ich schwach.”
Dieser seidenweiche Unterton. Sie zog erschrocken ihre Hand zurück.
Reiner rutschte ein Stückchen tiefer.
“Liebe ist schön, Mona”, sagte er sanft.
“Ich will nicht mit dir schlafen.”
“Habe ich gesagt, dass ich mit dir schlafen möchte?”
Es war schön, ihn zu küssen. Er war ungezwungen und zärtlich, und er konnte so hinreißend genießerisch lächeln. Er drängelte nicht, stopfte ihr nicht hektisch die Zunge in den Hals oder schlabberte ihr das halbe Gesicht ab, bis sie angeekelt das Weite suchte. Oh verdammt, es war so leicht, sich von ihm aus der Reserve locken zu lassen, von den einladenden Blicken und dieser unbekümmerten Sinnlichkeit. Ehe sie sich versah, waren sie eng umschlungen auf dem Bett herumgerollt und jetzt... Jetzt lag sie also doch unter ihm. Er hielt ihre Handgelenke fest und sah auf sie herab. Sie war gefangen. Sie war ihm ausgeliefert. Ihm ausgeliefert. Ihm... Und wenn er jetzt... Vielleicht sollte sie lieber sehen, dass sie hier herauskam, bevor er... bevor er sie begehrte. Aber er würde doch nicht... Oder würde er? Dass sie nichts tun sollte, was sie nicht wollte, hatte er gesagt. Aber wenn er... wenn die Erregung... Oh Gott, sie hatte ihn doch nicht erregt? Nicht... also, nicht ernsthaft?
Du hast ihn berührt. Und ihn geküsst. Dich mit ihm herumgewälzt. Du hast mit den Spielchen angefangen. Musstest ihm ja unbedingt erzählen, dass er knackig ist. Und wenn er jetzt will, dass du das zuende bringst... du weißt ja, wie das geht.
Ihr war übel. Bitte...
Ruhig jetzt. Ruhig atmen. Panik hilft nicht. Wenn sie ihre Hände frei bekäme. Wenn sie es aus dem Bett schaffen würde... Als sie vorsichtig ihre Arme in seinem Griff bewegte, ließ er sie los.
“Ich habe dich erschreckt.”
“Nein.” Sie versuchte ein Lächeln. Wenn er doch nur von ihr runter ginge.
Reiner stützte den Kopf in eine Hand und strich über ihre Wange.
“Du magst es nicht, wenn man dich festhält, hm? Entschuldige.”
Sie spürte seine Fingerspitzen auf ihrer Haut, die ihr das Haar aus der Stirn strichen, ihre Augenbrauen berührten. Der Schrecken ebbte ab. Sie konnte wieder atmen. Sein Blick war offen und ein wenig nachdenklich. Sieh mich nicht so an, dachte sie, und schämte sich. Stell mir keine Fragen, bitte...
Reiner beugte sich zu ihr herab. Sein Atem strich über ihren Mund, die Nase, die Augen. Wie ein Windhauch war das, wie eine kribbelnde Liebkosung.
“Was tust du...”, murmelte sie gegen seinen Mund, als er mit der Zungenspitze über ihre Lippen fuhr.
“Dich verführen.”
Da war wieder dieses Lächeln in seinem Blick, sorglos und ungezwungen, und dahinter, ganz am Rand, ein Hauch von Verlangen. Er lag immer noch auf ihr, aber es war nicht mehr bedrohlich. Es war... angenehm. Von irgendwoher tief in ihr, tief unter dem Entsetzen, schlich sich ein Gefühl an, langsam und vorsichtig.
Wie es wohl war... wie das wohl war, wenn man... wenn man wollen konnte? Wie mochte es sich anfühlen, wenn man fähig war, sich fallen zu lassen? Wenn man genießen konnte, so wie Reiner es tat?
Irgendwann waren ihnen die T-Shirts abhanden gekommen. Monas lag auf dem Boden vor dem Bett, Reiners hing über dem Deckenventilator, weil sie eben doch besser zielen konnte als er. Jetzt lag sie warm und sicher in seinen Armen und lauschte Bonos Stimme, die sich zum Klang einer Gitarre auf die hohen Töne quälte. Das machte beinahe eine Gänsehaut.
Ja, dachte Mona, als Reiner sie noch ein wenig näher zu sich zog, er konnte verführen. Diese entwaffnende Offenheit, mit der er seine Freude zeigte. Und wie es ihm gefiel, ihr zu gefallen. So selbstsicher und ohne jede Scham. Er forderte nicht, bedrängte nicht. Und er räkelte sich so gern, räkelte sich unter ihr, auf ihr, neben ihr, und dieses selbstvergessene Lächeln...
“Es ist schön in deinen Armen”, sagte sie vertrauensvoll.
“Ich hab dich gern so nah bei mir.” Nur ein Flüstern und nur noch der dünne Stoff ihrer Unterhose zwischen seiner Hand und allem, was sie fürchtete.
Vielleicht... vielleicht war es ja gar nicht so ekelhaft.
Ich brauche ihn nur einmal anzusehen und er wird aufhören. Er wird mir nicht wehtun. Er möchte, dass es mir gefällt. Vielleicht... vielleicht gefällt es mir ja? Vielleicht... Es einfach zulassen. Mich fallen lassen. Mich an ihn verlieren, nur ein kleines bisschen...
Oh.
Das... das war...
“Like a firework”, schlug Bono vor, ein Lächeln in der Stimme, “it explodes... Roman candles... lightning lights up the sky...”
Ja, doch, irgendwie... irgendwie schon. So also konnte es sein. Reiners Augen über ihr, so zärtlich, so verlangend. Und er war schön. Sein Blick, das entspannte Gesicht, sein Körper...
Die Decke war zur Seite gerutscht. Er war nackt. Wann... Wann hatte er...? Und da, zwischen den Beinen...
Nein! Nein, nicht, bitte...
Sie riss sich los, aber die Schatten waren schon über ihr, stießen sie in die wirbelnde Finsternis, warfen sie zurück in eine andere Nacht, ein anderes Bett.
Flackerndes Kerzenlicht in einem schäbigen Raum. Er küsste sie gierig, schob ihr Kleid hoch, zerrte die Unterhose an ihren Beinen herab.
“Ah oui.” Sein Atem ging schwer. “Ma chérie, comme je t’aime...”
“Nein... Non, attends... Je ne veux...”
Seine Zunge drang in ihren Mund. Die Hand zwischen ihren Beinen war grob. Ihr wurde übel. Dann der Schmerz, als seine Finger sich in ihren Körper zwängten. Sie keuchte, wand sich, versuchte zu entkommen. Er stöhnte begeistert.
“Oui... Ca te plaît...”
Er bohrte wieder seine Zunge in ihren Mund, wühlte darin herum. Sie musste würgen. Seine Hand ließ von ihr ab, die Gürtelschnalle klapperte, als er hektisch seine Hose öffnete. Sie versuchte verzweifelt, sich loszureißen und er lachte, das Gesicht verzerrt von Gier. Dann war er auf ihr, drängte seine Beine zwischen ihre, rieb sich stöhnend an ihrer Scham.
“Je t’aime...” Keuchender Atem an ihrem Ohr, die Worte kaum zu verstehen, “...vierge, je sais... n’aie pas peur... va te plaire...”
Weißglühendes Entsetzen, eine blitzende Klinge in ihrem Kopf. Ihn ablenken, sie musste ihn von sich ablenken, seine Gier befriedigen, irgendwie, bevor... bevor er es selber tat. Verzweifelt griff sie an ihm herab, zwängte ihre Hand zwischen ihre Körper, schloss die Finger um dieses Ding, rieb daran herum, rieb und rieb, während er stöhnte, während er hechelnd an ihr herumgrabschte, ihr keuchend in die Haare sabberte...
“Mona.”
Nein! Nein...
“Mona.”
Sie lag mit dem Rücken an der Wand, zusammengekauert, die Knie an der Brust. Sie zitterte. Und da war Reiner, der vorsichtig eine Hand nach ihr ausstreckte.
“Mona. Es tut mir leid. Ich wollte dir etwas schenken.”
Sie sah ihn an und langsam, ganz langsam, ließ das Zittern nach. Er konnte nichts dafür. Er konnte ja nicht wissen, dass sie... dass sie anders war.
Er hatte ihr ein Geschenk machen wollen. Und sie hatte es nicht annehmen können.
Du bist unfähig, sagte die Stimme in ihrem Kopf. Du bist zerstört. Sieh dich doch an. Nicht einmal ein paar harmlose Zärtlichkeiten kann man mit dir teilen, ohne dass du einen Anfall bekommst. Er wird glauben, du spinnst. Und er hat Recht.
Nein. Nein, diesmal schaffst du es nicht, dass ich mich schäme. Es war nicht meine Schuld, hörst du? Es war verdammt noch mal nicht meine Schuld! Ich war sechzehn. Ich war viel zu jung. Ich hätte mich vielleicht nicht mit ihm einlassen sollen, aber das gab ihm noch lange nicht das Recht, mir das anzutun. Mich mit seiner Gier zu überfallen, ohne einen Gedanken daran, was ich wollte und was nicht. Ohne jede Rücksicht.
Und ich bin nicht zerstört. Ich bin nicht tot. Ich bin nur... anders. Und jetzt hau ab. Hau ab!
“Mona?”
Hau ab. Scheiße, das ist ja dein Bett hier.
“Kann ich dich in den Arm nehmen?”
Nein. Es reicht für heute. Nimm deine Hand von meinem Gesicht. Ich werde nicht heulen. Ich werde nicht... Also gut. Hier kann ich ja auch nicht liegen bleiben.
Mona rutschte widerwillig in seinen Arm, zog rasch die Decke hoch und schloss die Augen.
Glotz mich nicht an. Ich weiß genau, dass du mich anglotzt. Lass mich einfach nur in Ruhe. Und bleib mir bloß mit deinem Ding vom Leib. Bleib weg von mir. Ich kann das nicht.
Sie wappnete sich. Jetzt würden sie kommen, die Fragen. Die demütigenden Fragen. Aber sie würde nicht antworten. Sich nicht rechtfertigen. Sie sprach nicht darüber. Mit niemandem. Nicht einmal mit Jeanne. Auch nicht über den Traum, der immer wiederkam. Nicht nachts, nein, seltsamerweise niemals nachts, aber tagsüber, wenn sie irgendwo saß, in einer Menschenmenge, im Guevara, irgendwo. Dann sah sie ihn, plötzlich, wie er auf sie zukam. Die Geräusche wurden leiser, verschwammen. Sie erhob sich und trat ihm entgegen. Sie hielt einen Stock in der Hand. Und dann schlug sie zu, schweigend. Schlug zu, immer wieder, ohne ein Wort, bis er zusammenbrach, schlug zu, bis er am Boden lag, und noch ein paar Mal. Dann warf sie den Stock zur Seite und sah auf ihn herab. Sie spuckte vor seine Füße, drehte sich um und ging.
“Irgend jemand hat dich sehr verletzt”, sagte Reiner ruhig. Er schien keine Antwort zu erwarten. Er hätte auch keine bekommen.
“Hat er dich...”
“Nein”, sagte sie feindselig. Stell mir keine Fragen. Es geht dich nichts an. Ich werde meine Seele nicht vor dir ausbreiten. Schieb dir dein Mitleid in den Arsch.
Aber da war kein Mitleid.
Als sie es endlich fertig brachte, ihn anzusehen, war da nur Ruhe. Gleichmütige Ruhe. Weder Herablassung, noch Sorge. Er sah sie einfach nur an. Nahm sie hin, wie sie war. Versuchte nicht, in ihre Gefühle zu dringen.
Konnte es sein, dass er sie so gut verstand?
Nein, dachte Mona, während sie seinen Blick studierte, nein, es ist das Gegenteil. Es interessiert ihn nicht wirklich. Ich bedeute ihm nicht genug, als dass er mich verstehen wollte. Ich bin halt irgendwie in sein Bett geraten, das ist alles. Und dass ich anders bin, das stört ihn nicht. Es ist ihm egal. Es ist ihm einfach egal.
Wie gut das tat. Dieses freundliche Desinteresse. Es gab ihr Raum zum Atmen. Und es machte, dass sie wieder lächeln konnte.
“If I could”, sang Bono, ”yes I would... if I could, I would let it go... surrender...”
Vielleicht... vielleicht würde sie sein Geschenk ja doch annehmen.
Die Morgensonne stahl sich ins Zimmer und kroch langsam über das Bett. Mona saß im Sessel und sah zu, wie Reiner sich im warmen Licht zu räkeln begann.
“Hallo Mona.” Er lächelte sie verschlafen an. “Warum sitzt du denn da nackt in der Kälte? Magst du nicht noch ein bisschen zu mir ins Bett kommen?”
Aber immer. Sie machte es sich in seinen warmen Armen bequem. Er bekam schon wieder diesen Genießerblick und sie schüttelte den Kopf.
“Hmm...”
“Du bist aber recht leicht zu beeindrucken”, meinte sie grinsend.
“Ja wenn du doch so verlockend bist...”
Mona schloss die Augen. Das war angenehm, seine Hände auf ihrer kalten Haut, sein Körper an ihrem. Sich nicht zu fürchten vor dem, was kommen könnte. Zu wissen, wie es sich anfühlte. Und dass da nichts Ekelhaftes war. Reiners Lust war schön. Ihn in den Armen zu halten, ihn zu berühren, zu spüren, wie sich sein Körper anspannte. Es war eine seltsame Macht, die Hingabe auf seinem Gesicht zu sehen und zu wissen, dass sie es war, die ihm das schenkte. Langsam verstand sie, warum er soviel Freude daran hatte, Freude zu geben.
“Irgendwann”, sagte sie, als sie neben ihm lag, die Arme auf seiner Brust verschränkt und das Kinn auf die Hände gestützt, “irgendwann mal, wenn ich... also wenn ich...”
“Wenn du was?”, fragte er neckend und sie zwinkerte ihm zu.
“Na, wenn ich groß bin, du weißt schon.”
Reiner lachte.
“Dann möchte ich mit dir schlafen,” sagte Mona.
“Aber jetzt noch nicht.”
“Nein, jetzt noch nicht. Jetzt kann ich mir das gar nicht vorstellen. Aber immerhin kann ich mir jetzt vorstellen, dass ich das mal irgendwann will. Bisher habe ich mich schon bei dem Gedanken, jemanden anzufassen, fast übergeben. Aber jetzt... ich meine, ich will das alles noch gar nicht, aber trotzdem... trotzdem wüsste ich auch gern, wie sich das anfühlt mit dir.” Sie sah ihn nachdenklich an. “Vielleicht habe ich doch Angst, etwas zu verpassen.”
“Du verpasst nichts, Mona.”
Irgendwie konnte sie sich ein Grinsen nicht verkneifen.
“Bist du sooo schlecht?”
“Kröte”, sagte Reiner lachend und zog sie an den Haaren.
“Vielleicht ist es besser so.” Er wickelte sich ein paar Haarsträhnen um die Finger. “Ich glaube, ich möchte jetzt nicht mit dir schlafen. Ich war noch nie der erste Mann für eine Frau, und dieses erste Mal ist doch sehr wichtig. Da gibt es so vieles, was man falsch machen kann... Davor hätte ich Angst. Das wäre mir zuviel Verantwortung.”
“Drückeberger”, sagte Mona lächelnd.
“Warum?” fragte er, dann streckte er sich. “Ich hab Hunger. Wie wärs mit Frühstück?”
“Nein, ich denke, ich sollte gehen.” Mona gab ihm einen Kuss. “Ich muss zur Beichte.”
“Oh.” Er sah ein wenig erschrocken aus.
“Ich fahre bei Jeanne vorbei und hole mir meine Standpauke ab.”
“Wieso denn Standpauke?”
“Na ja, wo ich sie doch gestern angeschissen habe, weil sie mit einem fremden Mann nach Hause gegangen ist...”
“Und jetzt liegst du hier in meinem Bett. Sie wird dich einen Kopf kürzer machen”, lachte Reiner, nicht ohne ein gewisses Maß an Selbstzufriedenheit.
“Nein”, sagte Mona, ”Jeanne wird sich schlapplachen.”
Von Jeanne war nur ein Arm und wirres rotes Haar zu sehen. Mona bahnte sich ihren Weg durch das Durcheinander aus Steifftieren, Kleidern, Büchern und noch mehr Steifftieren. Sie stellte die beiden Kaffeetassen auf dem Boden ab und krabbelte zu ihrer Freundin ins Bett.
“Hallo Irrlicht.”
“Mona? Was machstn du hier?” Jeanne streckte sich verschlafen.
“Ich war in der Nähe und wollte mit dir frühstücken.”
“Das ist aber lieb.” Sie gähnte. “Bist du gut nach Hause gekommen gestern?”
“Eigentlich nicht.”
“Hm? Ist was passiert?”
“Nö...”, sagte Mona, “ich war nur nicht zu Hause.”
Jeanne brauchte ein paar Augenblicke. Dann setzte sie sich mit einem Ruck auf und sah ihre Freundin misstrauisch an.
“Moonaa...?? Mona! Das ist ja wohl nicht wahr!”
“Doch”, meinte Mona fröhlich.
“Reiner der Schreiner?”
“Reiner der Schreiner, in der Tat.”
Sie hatte doch gewusst, dass Jeanne sich schlapplachen würde.
“Komm schon”, feixte Mona, “lies mir die Leviten.”
“Würde das was helfen?”
“Nö.”
“Ich werde nie wieder auf dich hören!” Jeanne lachte immer noch.
“Na, das fällt ja nicht weiter auf.”
Mona reichte ihr eine Kaffeetasse und lehnte sich neben Jeanne an die Wand. Es war schön, jemanden zu haben, mit dem man darüber lachen konnte. Und der sich mit einem freute.
Jeanne sah sie über den Tassenrand hinweg an.
“Sag... Hast du mit ihm geschlafen?”
“Quatsch.”
“Aber es war schön, hm?”
Mona nickte nur.
“Verliebt?”
“Nö.”
“Bestimmt nicht?”
“Nein.” Sie horchte in sich hinein, aber da war nichts. Seltsam, dachte sie, man sollte meinen, ich falle ihm zu Füßen. Aber nein, ich mag ihn, das ist alles.
“Wie ist er denn so?” fragte Jeanne hinter ihrer Tasse.
“Oh, er ist...”, Mona suchte nach einem passenden Wort. “Erfrischend.”
Jeanne lachte sich schon wieder schlapp und Mona lachte mit.
“Hat er dich erfrischt, ja?”
Sie kicherten immer noch, als Jeannes Mutter sie zum Frühstück rief.