Pflanztag

 

Pru strich lächelnd über die Rinde des Kirschbaums, der gegen den Stamm des Letztjährigen gelehnt stand, die Äste in den Ästen des Vorgängers verhakt, die Wurzeln umhüllt von einem Tuch.

Wie schön er war. Schon jetzt überragte er sie um Haupteslänge, die Zweige glatt und biegsam, bedeckt mit den ersten Knospen. Er würde sich wohlfühlen, hier unter seinen Artgenossen, die in einer weiten Spirale standen, der älteste in der Mitte, von seinen Nachfolgern schützend umkreist. Ein Baum für jedes Jahr.
Zwei Frauen kamen über die Wiese, die zwischen dem Haus und dem Kirschhain lag. Wie Pru gingen sie barfuß in ihren langen roten Kleidern. Die Säume schleiften hinter ihnen zwei Handbreit über das taufeuchte Gras, die geschlitzten Ärmel hingen bis fast auf den Boden herab. Das Gesicht der Älteren war von einem Netz feiner Runzeln überzogen. Sie trug ein Bündel Zweige in der Hand, die sie von der Tollkirsche neben dem Haus geschnitten hatte. Die Jüngere, ihre Tochter, hatte sich fünf Sofakissen unter den Arm geklemmt.
Pru raffte ihr Kleid und ging ihnen entgegen.
"Guten Morgen! Hast du gut geschlafen, Großmutter?" Sie lächelte die alte Frau an, während sie ihrer Mutter ein paar Kissen abnahm.
"Wir haben Glück", sagte ihre Großmutter, ohne auf die Frage einzugehen. "Schau, wie klar der Himmel ist. Endet der Winter ohne Wolken und Regen, wird der Sommer ein wahrer Segen."
Unter den Kirschbäumen angekommen, drehte sie ihr langes weißes Haar zu einem Knoten und steckte ihn mit zwei Tollkirschzweigen fest. Pru verteilte die Kissen auf der Bank, die unter dem Vorjahresbaum stand. Dort lagen auch ihre Schuhe und die Schaufeln.
"Prunella." Großmutter winkte sie zu sich. Pru kniete vor ihr nieder und senkte den Kopf.
"Was macht der Winterkönig?", fragte die alte Frau, während sie Prus Haar aufsteckte.
"Er schläft." Pru sah in das runzlige Gesicht und zog die Augenbrauen hoch. "Er war sehr erschöpft."
Ihre Großmutter gluckste und drückte Prus Kopf wieder herunter, um den zweiten Zweig zu befestigen. Dann winkte sie ihre Tochter heran.
"Rosalie."
Die Angesprochene kniete folgsam nieder und ließ sich ebenfalls das Haar hochstecken.
Während Pru und Rosalie die derben Lederschuhe anzogen, machte Großmutter es sich auf der Bank bequem. Ein wenig steif hob sie ihre Beine auf die Bank und schlang den Rock gegen die Frühlingskälte um ihre bloßen Füße. Pru warf einen Blick nach Osten. Hinter dem Kirschhain erhob sich langsam die Sonne. Sie lächelte ihrer Mutter zu. Gleichzeitig stießen sie ihre Spaten in die Erde und begannen zu graben. Die langen Schleppärmel behinderten sie, aber das spielte keine Rolle. So war es immer gewesen, so sollte es sein. Denn heute war Pflanztag.

 

Er erwachte mit einem üblen Geschmack im Mund. Seine Zunge fühlte sich pelzig an und das Licht verursachte ihm Kopfschmerzen. Sein Hals war rau, er hatte Durst. Quälenden Durst.
"Scheiße", murmelte er mit geschlossenen Augen. Pru und ihr gottverdammter Wein. Pru. Er blinzelte im Zimmer umher. Wo war sie? Sie war doch nicht wirklich aufgestanden, um diesen bescheuerten Baum einzugraben?
Anscheinend doch. Er war allein und ihm war hundeelend. So einen Kater hatte er noch nie gehabt. Das Licht war unerträglich. Sein Gesicht fühlte sich heiß an, sein Herz raste und der Durst brachte ihn fast um. Auf dem Nachttisch stand eine Flasche. Ohne die Augen mehr als einen Spalt zu öffnen, griff er danach und hielt sie direkt vor sein Gesicht. Er konnte nicht richtig sehen, alles war verschwommen. Aber es war kein Wein, Gott sei Dank. Pru musste die Weinflaschen weggeräumt und ihm diese hier hingestellt haben. Saft vermutlich, irgendetwas Dunkles, rötlich, fast lila, oder lag das an seinen Augen? Sein Hals war so trocken, dass er vor Schmerzen kaum schlucken konnte, aber der Durst war stärker. Der Saft schmeckte süß, entsetzlich süß und nach Kirschen. Wasser wäre ihm lieber gewesen, aber er fühlte sich zu schlecht, um sich bis ins Bad zu schleppen. Langsam quälte er fast die ganze Flasche in sich hinein und stellte sie tastend auf den Nachttisch zurück.
Durch das halbgeöffnete Fenster drang Vogelgezwitscher. Er presste stöhnend die Hände auf die Ohren und drehte sich zur Wand. Etwas Grünes lag auf dem Bettlaken. Es sah aus wie Blätter. Er blinzelte. Efeu? Ach ja, Efeu. Langsam kehrte die Erinnerung an den gestrigen Abend zurück und er grinste.
Pru hatte für ihn gekocht. Barfuß öffnete sie ihm die Tür, das lange rote Kleid schwang um ihre Beine. Es hatte eine Schleppe und geschlitzte Ärmel, die fast den Boden berührten.
"Wie siehst du denn aus? Gibt’s was zu feiern?"
"Morgen ist unser Halbjähriges."
Oh Scheiße, dachte er, Weiberromantik.
"Und morgen ist Pflanztag." Pru rückte den Stuhl am festlich gedeckten Tisch für ihn zurecht.
"Ach ja. Dann grabt ihr den Kirschbaum ein, richtig?"
"Genau. Bei Sonnenaufgang."
"Warum so früh?", fragte er. Sie erwartete doch hoffentlich nicht, dass er half. Bei Sonnenaufgang gedachte er tief und fest zu schlafen.
"Weil es so Sitte ist. Jede Familie hat ihre Tradition. Manche essen zu Weihnachten grundsätzlich Fondue. Andere treffen sich am Todestag des Uropas und betrinken sich beim Kartenspiel. Und in meiner Familie begrüßen die Frauen den Sommer, indem sie einen Kirschbaum pflanzen. Und zwar bei Sonnenaufgang."
"Und die Männer?"
"Welche Männer?", lächelte Pru.
Na wenigstens schien sie nicht zu erwarten, dass er mitmachte bei ihren seltsamen Riten. Mitten in der Nacht Kirschbäume pflanzen. Und dann auch noch im Frühjahr. Soweit er wusste, machte man das im Herbst, damit sie angingen, aber nein, hatte Pru gemeint, das sei alles nur eine Frage des richtigen Düngers. Die Zusammensetzung allerdings wollte sie ihm nicht verraten. Familiengeheimnis. Vermutlich irgendein Kraut, das ihre Großmutter bei Vollmond schnitt und mit Spinnenbeinen einkochte. Das würde zu ihr passen. Prus Mutter und Großmutter wohnten in einer Haushälfte, Pru in der anderen. Zum Glück sah er die beiden älteren Frauen nur selten. Die Mutter schien recht vernünftig, aber die Großmutter erinnerte ihn an die Hexe aus Hänsel und Gretel. Wenn sie ihn ansah, stellten sich seine Nackenhaare auf. Er erwartete immer, dass sie ihn in die Wange kniff, um zu prüfen, ob er schon fett genug sei für den Sonntagsbraten.
Als Pru sich über den Tisch lehnte und nach der Weinflasche angelte, gönnte er sich einen ausgiebigen Blick in ihren Ausschnitt.
"Du hast den BH vergessen."
"Oh", sagte Pru und schielte selbst in ihr Kleid, "nicht nur den BH, fürchte ich."
Er griff nach ihr, aber sie entwand sich ihm und schenkte den Wein ein.
"Auf dich." Sie hob ihm ihr Glas entgegen. "Auf den Winterkönig."
Er konnte sich nicht erinnern, dass sie jemals seinen Namen ausgesprochen hatte. Nicht seit jener ersten Nacht, als sie unter den Kirschbäumen standen. Als sie ihr Bein geschickt um seine hakte und ihn mit einer schnellen Bewegung von den Füßen riss. Er hatte auf dem Rücken gelegen und sie war über ihm gewesen, bevor er sie verdutzt fragen konnte, wo sie das gelernt hatte.
"Jahrelange Übung", hatte sie gegrinst. "Schließ die Augen, Winterkönig."
Zu weiteren Fragen war er nicht mehr gekommen, denn auch in anderen Dingen schien sie einige Übung zu haben.
Schade eigentlich, dachte er, während er in großen Schlucken den schweren Kirschwein trank und Pru beobachtete, die seinen Teller füllte. Wie schade, dass sie das nie wiederholt hatte. Sie hätte ihn ruhig noch einmal auf den Rücken werfen können. Zum Beispiel heute, wo sie nackt war unter ihrem Kleid. Welch reizende Vorstellung.
"Hast du nicht gesagt", fragte er beim Essen, "mit eurem Pflanztag begrüßt ihr den Sommer?"
"Ja. Morgen ist Sommeranfang."
"Werde ich dann befördert? Zum Sommerkönig?"
"Sozusagen."
"Und? Gibt es eine Zeremonie?"
"Aber sicher." Pru lächelte. "Iss deinen Teller leer."
Im Schlafzimmer warfen dicke Kerzen flackernde Schatten an die Wand. Eine Reihe Weinflaschen und ein reichverziertes Glas standen vielversprechend auf dem Nachttisch. Er wunderte sich kurz über das Bündel Grünzeug auf dem Boden, dann schälte Pru ihn auch schon aus seinem Hemd und schubste ihn rückwärts aufs Bett.
"Was wird denn das?", fragte er, als sie seine Hände mit langen Efeuranken an die Metallstäbe des Kopfteils band.
"Magische Kräuternacht." Sie füllte das Weinglas und hielt es an seine Lippen. "Wolltest du nicht eine Zeremonie?"
Der Wein schmeckte anders als der Kirschwein, den sie zum Essen getrunken hatten. Ähnlich, aber anders. Nicht schlecht allerdings. Pru krümelte getrocknete Blätter auf seine Haut. Sie verströmten einen herben Geruch nach Salbei und irgendwelchen Kräutern, die er nicht kannte. Das versprach ja nett zu werden.
"Na dann los", hatte er gegrinst, erwartungsvoll und bereits leicht betrunken. "Mach mir die Hexe."

 

Pru wischte sich den Schweiß vom Gesicht und stützte sich für einen Moment auf ihren Spaten. Abschätzend betrachtete sie den Kirschbaum, dann das Pflanzloch zu ihren Füßen.
"Nein", sagte ihre Mutter, als sie ihren Blick bemerkte. "Tief genug sind wir, aber der Umfang reicht noch nicht. Noch lange nicht." Sie warf eine weitere Schaufelvoll Erde zur Seite.
"Ich weiß", seufzte Pru und schüttelte ihre schmerzenden Arme aus, dann grub sie weiter.
"Der nächste wird kleiner", murmelte sie.
"Das sagst du an jedem Pflanztag", meinte ihre Mutter resigniert. "Und jedes Jahr, wenn die Zeit der Wahl kommt, suchst du dir wieder einen möglichst großen aus."
"Das hat sie von mir", warf Großmutter mit einem zufriedenen Lachen ein und lehnte sich gemütlich in ihre Kissen zurück. "Als ich wählte, konnte ich auch nie den Hochgewachsenen widerstehen. Groß und stark mussten sie sein..."
"Ich kann mich gut erinnern," sagte Rosalie sarkastisch und Pru lachte.
"Dafür waren deine immer besonders klein."
"Nicht über eins sechzig", bestätigte ihre Mutter. "Das reduziert das Pflanzloch auf eine vernünftige Größe und erleichtert die Arbeit. Alles darüber ist..."
"...unnötige Anstrengung", vervollständigte Pru im selben Tonfall und hörte ihre Großmutter glucksen. Seit die Wahl von ihrer Mutter auf sie übergegangen war, führten sie an jedem Pflanztag die gleiche Diskussion. Pru liebte die Neckereien, die unweigerlich in alten Geschichten endeten. Großmutter saß auf ihrer Bank, flocht einen Kranz aus den restlichen Tollkirschzweigen und erzählte von den Zeiten, als sie die Wählende war. Pru lauschte ihrer Stimme, während sie grub, aber dieses Mal schweiften ihre Gedanken ab. Sie liebte die Pflanztage. Sie liebte die Beständigkeit, die Ruhe des immer Wiederkehrenden, eingebettet in die Zeit. Eines Tages würde sie hier mit ihrer Tochter stehen und sie lehren, den Winter zu begraben und den Sommer zu begrüßen. Eines noch ferneren Tages würde sie die Wahl an ihre Tochter übergeben und diese dann an ihre Tochter. Und in vielen, vielen Jahren, wenn sich die Kirschbäume die Wiese hinaufzögen bis zum Haus, wäre sie diejenige, die am Pflanztag ihrer Enkelin das Haar hochsteckte, um dann kranzflechtend auf der Bank zu sitzen und von alten Zeiten zu erzählen.
Die Sonne hatte fast den Zenit erreicht, als Pru und Rosalie ihre Spaten zur Seite legten und erschöpft die Schuhe auszogen. Pru wischte sich mit den schmutzigen Händen durchs Gesicht und hinterließ erdige Flecke. Ihre Mutter sah nicht besser aus.
"Großmutter?", fragte Pru. "Begleitest du uns?"
"Ach nein", sagte die alte Frau und reichte ihrer Enkelin den fertigen Kranz. "Ich sitze ganz gut hier. Geht ihr nur, geht."
Im Haus war es still. Pru legte das Ohr an die Tür ihres Schlafzimmers. Kein Geräusch. Sie lächelte ihre Mutter an und drehte den Schlüssel im Schloss. Das Zimmer war ordentlich, alles stand an seinem Platz. Der Winterkönig lag auf dem Bett, nackt und schön, wie sie ihn verlassen hatte. Sein gerötetes Gesicht bekam langsam einen blauen Unterton. Auf dem Nachttisch stand die Flasche Tollkirschsaft. Sie war fast leer.
"Er hat nicht getobt", stellte Rosalie fest.
"Großmutter würde sagen, das ist ein gutes Zeichen", meinte Pru, während sie den Kranz um seinen Kopf legte. "Ist der Winterkönig friedlich, wird der Sommer warm und lieblich."
Rosalie lachte.
"Deine Großmutter hat schon immer gerne Zeichen gesehen."
"Ich auch. Ich glaube nicht unbedingt daran, aber ich mag sie. Die Zeichen." Pru schob ihre Arme unter die Schultern des Winterkönigs.
"Ja. Du bist wie sie", sagte ihre Mutter und nahm seine Beine.
Keuchend schleppten sie den schweren Körper aus dem Haus und über die Wiese. Rosalie schüttelte den Kopf und sah ihre Tochter vorwurfsvoll an.
"Sag nichts", japste Pru schuldbewusst. "Ich verspreche es. Der nächste wird kleiner. Höchstens eins sechzig."
"Wir werden sehen", seufzte ihre Mutter.
Großmutter kam ihnen entgegen und geleitete sie das letzte Stück.
"So begraben wir den Winter", sagte sie feierlich, als Pru und Rosalie den Ohnmächtigen in die feuchte Erde legten. "Wie es der Brauch ist."
Pru zog das Tuch von den Wurzeln des Kirschbaums und trug ihn zum Pflanzloch herüber.
"Und heißen den Sommer willkommen", rezitierte Rosalie.
Der Baum stand aufrecht und sicher, wie all die anderen vor ihm, die Wurzeln gebettet in die Arme des Winterkönigs.
Pru lächelte, griff nach dem Spaten und warf die erste Erde herab.

 

© Carolin Schlipf MMI