"Lasst mich gehen! Lasst mich..."
"Du kannst nicht fort. Du gehörst zu uns."
Arme umflossen sie, hielten sie zurück, Algenhaar schlang sich um ihre Beine. Ein Gesicht trieb vor ihres, die Haut so straff über den Knochen gespannt und so glatt, viel zu glatt, wie
rundgewaschene Kiesel am Flussgrund.
"Wohin willst du gehen? Du gehörst dort nicht mehr hin."
"Gehörst dort nicht mehr hin" echoten die Stimmen, "nicht mehr hin, nicht mehr hin..."
Wasser schwappte in ihren Mund und Hannah wachte hustend auf. Sie lag im Schlamm, der See leckte einladend an ihren Füßen. Als sie sich aufsetzte, fielen strähnige Algen auf ihre Schultern,
leicht klebrig, wie Tang, der in der Sonne trocknet. Zwischen ihren Fingern, stumpf vom Schlamm und glanzlos, Schwimmhäute.
Sie hatte nicht geträumt.
Sie war in den See gefallen. Den See, von dem Großvater erzählt hatte, von den Wesen in seinen Tiefen und dem Schicksal all jener, die sich in sein Wasser wagten.
"Sie machen sie zu ihresgleichen."
Der See hatte sie herunter gezogen zu dem gluckernden Lachen, dem vielstimmigen Chor, der sie einhüllte, den blassen Händen mit silbrigen Schwimmhäuten, so schön in ihren fließenden Bewegungen,
so betäubend schön, sich in ihnen zu verlieren. Aber noch nicht. Noch nicht, weil...
"Komm", sangen die Stimmen in ihrem Kopf, "komm zurück zu uns. Warum bist du fortgegangen?"
Ja, warum? Es fiel schwer, sich zu erinnern und es schien unwichtig, bedeutungslos alles außer dem silbernen Glanz und der Schönheit des Sees. Sie waren dort unten, im kühlen Dunkel, ein bisschen
näher nur und sie könnte die wogenden Algen sehen, die tümpelgrünen Augen...
"Komm zurück", sangen sie, "du gehörst zu uns..."
Die Wellen kamen ihr entgegen, reckten sich nach ihren Beinen. Sie rutschte näher.
"Wir warten auf dich. Du bist wie wir, bist wie wir..."
Hannah erstarrte und zog die Füße aus dem Wasser.
Eine andere Stimme erhob sich aus ihrer Erinnerung, ein anderes Gesicht, Augen wie ihre unter dunklen Locken, ein Flüstern an ihrem Ohr: "Du bist wie ich..."
Tim. Tim würde kommen, heute Abend. Sie mussten das Haus ausräumen, das Großvater ihnen vererbt hatte. Nein, was sollte sie mit einem Haus? Aber sie musste Tim sehen, einmal noch, die
Vergangenheit begraben, ihn begraben, bevor sie eins wurde mit dem See.
"Lauf nicht weg," riefen die Stimmen ihr nach, "du kannst nicht mehr zurück. Es ist zu spät, zu spät, zu spät..."
Und sie lachten. Gluckernd. Boshaft.
Sie hetzte die Treppe hinauf ins Badezimmer, zu dem einzigen Spiegel, den sie im Haus gefunden hatte. Die Algen klebten strähnig an ihrem Kopf, ihr Gesicht war schlammverschmiert. Und ihre Augen
waren grün. Tümpelgrün.
Verdammt. Als erstes musste sie duschen.
Unter dem Wasser wurden die Algen weich und glatt, verloren ihre Klebrigkeit und den Moderduft, die Schwimmhäute glänzten wieder silbergrün. Hannah spreizte die Finger. Sie waren schön, wie
fremdartiger Schmuck. Was würde Tim sagen, wenn er sie so sehen könnte? Das seltsame Wesen, das sie geworden war?
"Du bist wie ich" hatte er immer gesagt.
"Bin ich nicht. Wir sind zweieiig. Im Biobuch steht, nur eineiige Zwillinge sind wirklich gleich."
"Bist du wohl. Ist mir egal, was im Biobuch steht."
"Deswegen hast du ja auch eine vier und ich eine zwei."
"Streberin."
"Blödmann."
Sie hatten gekämpft, waren über den Teppich gerollt, bis Tim auf ihr lag, sein Gesicht in ihrem Haar.
"Wir waren schon immer zusammen, schon vor der Geburt, Hannah. Länger als unser Leben. Wenn ich in den Spiegel sehe, dann sehe ich dich. Du bist wie ich."
Tim hatte sie geküsst und sie hatte ihn nicht geschlagen. Hätte sie ihn doch nur geschlagen.
Hannah rutschte mit dem Rücken an der Wand herunter und setzte sich in die Ecke der Dusche. Das Wasser prasselte auf sie herab, vermischt mit Erinnerungen, all den Erinnerungen, die sie tief in
sich eingegraben hatte, ganz tief unten, wo sie niemand finden sollte.
Die Familienschande.
Ihre Mutter in der Tür, die Hand noch am Lichtschalter, erstarrt vor dem Unfassbaren. Tim und sie in einem Knäuel auf dem Bett, die Haare verflochten, die Arme verschlungen, hektisch an der
Bettdecke zerrend um zu verhüllen, was nicht hätte enthüllt werden dürfen.
Mutter hatte geschrieen. Hatte Tim angeschrieen, der sich an seiner Schwester vergriffen hatte, seiner eigenen Schwester, Gott steh uns bei. Und Tim nahm die Schuld auf sich, wurde ins Auto
gepackt und zum Vater gebracht, den sie schon lange nicht mehr gesehen hatten. Papa lud Tim in einem Internat ab. Er musste auf die nächste archäologische Expedition, musste weiter durch sumpfige
Tempel kriechen, hatte keine Zeit, sich um Kinder zu kümmern, schon gar nicht um missratene.
Mutter sprach nicht über Tim. Schwieg ihn tot. Aber er starb nicht, starb nie ganz in Hannahs Herz, doch darüber sprach Hannah nicht. Sie schämte sich des Lochs in ihrer Seele, das Tim
hinterlassen hatte, floh vor Mutters Blicken, verlor sich in anderen Männern.
Dass Mutter nicht über ihn sprach, hieß nicht, dass sie vergab. Auch nicht nach fünf Jahren.
Hannah hatte sie angerufen, als sie die Nachricht von Großvaters Tod erhielt.
"Die Beerdigung ist übermorgen."
"Da gehen wir nicht hin."
"Ich gehe hin."
"Du gehst nicht. Mit der Familie deines Vaters haben wir nichts mehr zu schaffen."
"Du entscheidest, mit wem du zu schaffen hast, Mutter, ich entscheide für mich. Und ich gehe hin."
Mutter war mitgekommen, natürlich. Hatte drei Stunden anklagend schweigend auf dem Beifahrersitz gesessen, bis sie endlich den Friedhof erreichten.
"Du hältst dich von deinem Bruder fern."
Tim war erwachsen geworden. Das Gesicht kantiger, fremd, aber die Augen immer noch wie ihre.
"Hannah! Ich hatte so gehofft, dass du kommen würdest. Wie lange bleibst du? Können wir..."
"Wir fahren direkt nach der Beerdigung. Komm jetzt, Hannah, wir müssen deinen Vater begrüßen."
Ihre Mutter hatte sie weggezerrt und Hannah hatte sich zerren lassen, um des Friedens willen, um der Schande willen, oder vielleicht auch wegen Tims Lächeln. Er war ihr Bruder. Er hatte kein
Recht, so zu lächeln. Und sie hatte kein Recht, hineinzufallen in dieses Lächeln.
Hannah drehte die Dusche ab und griff nach einem Handtuch, rubbelte ihre Haut trocken, dann das Algenhaar.
Würde er heute auch lächeln, wenn er sah, was aus ihr geworden war? Oder würde er sich entsetzt abwenden?
"Du bist wie ich?" Nein. Nicht mehr.
Etwas rieselte in ihre Augen. Staub. Staub und Algenreste. Sie sah in den Spiegel und erstarrte. Die trockenen Algen wurden brüchig, zerfielen, und darunter, unzweifelhaft, Haare. Und ihre Augen
waren wieder braun. Auch die Schwimmhäute, stumpf und rissig, lösten sich ab. Hannah nahm ein Stück zwischen die Finger und zerrieb es zu Staub. Ihre Hände waren rau, die Haut zwischen den
Fingern gerötet, wie abgeschürft. Es juckte. Es begann am ganzen Körper zu jucken, doch am meisten an den Fingern. Sie sehnte sich nach Wasser, rieb ein paar Tropfen auf die roten Stellen. Sie
wurden silbrig.
"Du kannst nicht mehr zurück", hatten die Stimmen gesagt und sie hatten Recht. Hannah rieb den silbernen Glanz von ihren Fingern. Sie gehörte zu den Wesen im See. Zu ihresgleichen. Nur Tim noch.
Einmal noch Tim.
Er kam mit der Dämmerung und mit ihm kam der Regen.
Sie saßen im Wohnzimmer, Hannah hatte die Beine unter den Körper gezogen, kratzte an ihren Fingern und sah zu, wie Tim sich wand. Sie konnte spüren, wie er sich bemühte, die Fremdheit zu
überbrücken, die Lücke zwischen ihnen zu schließen, doch sie kam ihm nicht entgegen und so flüchtete er sich ins Unverfängliche, erzählte von seinem Leben, von Vaters Reisen, von den Unmengen
Dias von modrigen Steinen und sattgrünen Schlingpflanzen.
Hannah lächelte nur. Wie hatte sie sich danach gesehnt, das Schweigen zu brechen, wie hatte sie sich gefürchtet, was sie dahinter finden mochte, was sie verband, und was sie trennte. Aber das
alles war nicht mehr wichtig. Wichtig war nur noch die raue Haut an ihren Fingern und der Regen, der an die Fensterscheibe klopfte und sie rief.
"Komm", sagte sie, "lass uns spazieren gehen."
"Aber es regnet", wandte Tim ein, doch sie zog schon ihre Jacke an, verbarg ihre Haare unter der Kapuze.
"Komm schon. Ich will dir etwas zeigen."
Der See glitzerte. Das Licht brach sich in den Tropfen, die auf seine Oberfläche fielen, ihn mit Tausenden winziger Wellen überzogen. Die Stimmen schwiegen.
"Erinnerst du dich an die Geschichte, die Großvater uns erzählt hat über diesen See?"
Tim strich sich das nasse Haar aus der Stirn und sah auf das Wasser, das zu seinen Füßen ans Ufer schwappte, dann drehte er sich zu ihr um. "Großvaters Sumpfgeschichten." Er schüttelte den Kopf.
"Ich habe nicht mal gewagt, einen Zeh hinein zu halten, aus Angst, mir würden Schwimmhäute wachsen oder so etwas."
Sie konnte im Mondlicht sein Lächeln sehen. Der Regen lief ihm übers Gesicht, glänzte auf der nassen Haut. Hannah wischte einen Tropfen von seinen Lippen, die Finger eng beieinander, und hob die
Hand an den Mund.
"Du bist schön", sagte sie, "ich hatte beinahe vergessen, wie schön du bist."
Sie konnte spüren, wie es einen Sprung tat, sein verräterisches Herz, sie konnte es in seinen Augen sehen, in dem flatternden Wimpernschlag. Sie schob eine Hand in sein Haar und spreizte die
Finger.
"Deine Augen", sagte Tim, "in diesem Licht sieht es aus, als wären sie grün."
Hinter ihm bewegte sich der See.
"Ja. Sie sind grün." Er schmeckte nach Regenwasser und nach Erinnerungen, nach altem Schmerz und alter Sehnsucht. Als er sie in seine Arme zog, rutschte die Kapuze von ihrem Kopf, doch das
kümmerte sie nicht mehr.
"Hannah." Er hielt die Augen geschlossen und lehnte seine Stirn an ihre. "Ich liebe dich. Ich habe dich immer geliebt. Du bist wie ich, bist es immer gewesen..."
"Nein", sagte Hannah, "nicht mehr."
Sie schob ihn von sich und hob die Hände. Die Schwimmhäute glänzten im silbrigen Licht. Tim starrte auf ihre Finger, ihr Algenhaar, ihr grünäugiges Lächeln.
Da war es, das Entsetzen in seinem Blick, und es tat weh. Trotz allem hing ihr Herz immer noch an ihm. Wenn ich in den Spiegel sehe, hatte er gesagt, dann sehe ich dich.
In seinem Rücken schwappten die Wellen ungeduldig über den sumpfigen Boden.
Sie schlang die Arme um seinen Hals und riss ihn mit sich in den See.
© Carolin Schlipf MMI