Devi

Es ist Sommer. Im warmen Abgas klebe ich an meinem Sitz und betrachte das Muscleshirt meines Nachbarn. Aus seinem Wagen dröhnt dumpfer Technobrei herüber. Er hämmert im Takt auf der Autotür, die leichte Brise kühlt sein Achselhaar. Der Radiomoderator überschlägt sich fast. Was für ein Wetter! Was für ein herrlicher Tag! Er kann es nicht fassen.
Ich schon. Mir läuft das Wetter den Hals herunter und macht Flecken in mein Hemd. Ein herrlicher Tag, um mit seinem Taxi im Berufsverkehr zu stehen. Außerdem habe ich heute Mittag die Klausurergebnisse gesehen. Wieder durchgefallen. Und Julia hat gedroht, mich zu verlassen.
“So geht es nicht weiter”, hat sie gesagt. Und “das ist der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt.”
Nur weil ich vergessen habe, dass gestern Abend der Tanzkurs anfing. Ich muss Walzer lernen, weil ihre beste Freundin heiratet.
“Oder willst du, dass ich auf der Hochzeit den ganzen Abend mit anderen Männern tanze?” hat Julia gefragt.
“Also richtig schlimm fände ich das nicht... Schon gut. Natürlich möchte ich mit dir tanzen.”
Aber dann war gestern Training. Nach zwei Stunden Fußball in der Nachmittagshitze denkt man nur noch an Bier, nicht an Tanzkurse. Außerdem ist bald die Hochschulmeisterschaft, da gibt es noch viel an der Taktik zu besprechen. Daher sind diese Trainingsnachbereitungen im Moment sehr wichtig.
Leider versteht Julia das nicht.
“Du bist unzuverlässig”, hat sie geschimpft. “Ich habe keine Lust mehr, dich x-mal an alles zu erinnern. Und deine Ausreden kannst du dir sparen. Übernimm endlich Verantwortung für dein Leben. Nichts kriegst du auf die Reihe. Den Tanzkurs hast du verpennt. Als wir Samstag ins Kino wollten, musstest du unbedingt noch die Sportschau zu Ende sehen und dann waren die Karten weg. Seit Wochen versprichst du, mein Regal zu reparieren. Und im Studium bringst du es auch zu nichts. Wetten, du bist schon wieder durch die Klausur gefallen? Weil du die Nächte im Internet hängst, statt zu lernen... Und komm mir nicht mit Taktik für eure blöde Kickerei. Ihr werdet doch sowieso wieder Letzter.”
Schnepfe, dachte ich, aber ich sagte es nicht. Besser abwarten, bis sie sich beruhigt. Zurückschimpfen ist bei Julia keine gute Idee. Wenn ich sie anmotze, ist das unzulässig. Wenn sie mich anmotzt, ist es Emanzipation.
“Ich habe die Nase voll”, hat sie zum Schluss gesagt. “Wenn du nicht langsam erwachsen wirst, sehe ich keine Perspektive für uns. Schließlich muss ich an meine Zukunft denken. Ich will irgendwann eine Familie, da kann ich mich nicht an einen Versager wegwerfen. Denk endlich mal darüber nach, wer du bist und wo du hin willst.”
Dann hat sie einfach aufgelegt. Hatte es wohl eilig. Wahrscheinlich will sie sich noch einen Neuen suchen bis zur Hochzeit. Einen, der Walzer tanzen kann.
Ich biege aus dem Stau ab in eine Seitenstrasse. An der nächsten Ecke müsste es sein. Musikschule Hansen.
Auf dem Bürgersteig steht ein kleines Mädchen. Bevor der Wagen richtig steht, kommt sie auch schon angehüpft und steckt ihren Kopf durchs Beifahrerfenster.
“Hallo, bist du mein Taxi?”
“Ja”, seufze ich. Auch das noch. Bestimmt ist sie so eine nervige Göre, die am Radio herumdreht und mir von ihrem Meerschweinchen erzählt.
Die Göre steigt ein, auf dem Rücken einen Pokemonrucksack. Sie hat einen Blockflötenkasten und ein Notenheft dabei, die beide nicht in das lächerliche gelbe Monster passen.
“Ich möchte zu meiner Omi. Die wohnt in der Karl-Marx-Allee”, sagt sie. “Bitte.”
Sie zerrt umständlich am Gurt herum. Der Flötenkasten fällt in den Fußraum. Ich greife rüber und schließe ihren Gurt. Er sitzt ihr fast im Gesicht.
“Danke”, sagt sie.
Ich reihe mich wieder in den Berufsverkehr ein.
“Oh, meine Flöte”, ruft sie und taucht halb in den Fußraum. Das Pokemon rutscht ihr in den Nacken. Jetzt hat sie den Kasten gefunden und legt sich wieder ordentlich den Gurt ins Gesicht. Es sieht nicht sehr bequem aus, vor allem mit dem Plüschmonster im Rücken.
“Nimm doch deinen Rucksack ab”, schlage ich vor.
Sie zieht den Kopf wieder aus dem Gurt und zerrt an dem Pokemon. Ich kann gerade noch den Flötenkasten auffangen.
Wenn ich Kinder mögen würde, fände ich sie niedlich, wie sie über den Gurt schielt, die Arme um das Monster, den Kasten und das Notenheft geschlungen, damit ihr nicht wieder irgendetwas herunterfällt. Sie hat Sommersprossen und ein Gewirr dunkler Locken, das nicht nach Friseur aussieht.
“Warst du beim Flötenunterricht?” frage ich.
“Mhm.”
Okay, das war eine blöde Frage.
“Und fährst du immer mit dem Taxi nach Hause?”
“Nein. Sonst holt mich Inge ab. Aber jetzt kann sie ja nicht, weil sie im Krankenhaus ist und Omi hat kein Auto. Also, sie haben doch ein Auto, aber damit ist der Opa zur Arbeit gefahren.”
“Aha”, sage ich.
“Im Krankenhaus haben sie Inge den blinden Darm rausgenommen. Ich wollte sehen, wo sie in ihren Bauch geschnitten haben, aber es ist noch ein Pflaster drauf und Inge wollte mich nicht drunter gucken lassen.”
Sie klingt betrübt.
“Inge ist meine Mutter”, setzt sie hinzu.
“Aha”, sage ich, “und wie heißt du?”
“Devi.”
“Das ist aber ein ungewöhnlicher Name.”
“Das ist indisch. Weil Inge früher immer in Indien war. Das heißt Göttin.”
“Wirklich? Das wusste ich nicht.”
“Und wie heißt du?” fragt die kleine Göttin.
“Robert.”
“Oh”, sagt sie. “So heißt mein Hamster.”
“Danke.” Ich habe es gewusst. Jetzt kommt das Haustier.
“Aber er ist tot”, verkündet sie. “Willst du wissen, woran er gestorben ist?”
Nein. Will ich eigentlich nicht.
“Die Katzen haben ihn gefressen.”
“Das tut mir Leid.”
“Ist ja nicht so schlimm”, sagt sie fröhlich, “Inge sagt, er war ein sehr guter Hamster und ist bestimmt schon was anderes. Was höheres. Ein Dackel vielleicht. Einer mit Tannenschwanz.”
“Was ist denn ein Tannenschwanz?”
“Na, so ein großer Schwanz mit langen Haaren. Der aussieht wie ein Ast von einer Tanne. Meine Tante hat so einen.”
“Deine Tante hat einen Tannenschwanz?”
“Nein.” Sie kichert. “Meine Tante hat einen Dackel. Der Dackel hat den Tannenschwanz.”
“Ach so. Jetzt habe ich es verstanden.” Ich nicke. “Und dein Hamster ist also jetzt auch so ein Dackel.”
“Vielleicht”, sagt Devi, klemmt den Flötenkasten und das Notenheft unter den Bauchgurt und zieht eine Tüte aus dem Pokemon. “Inge sagt, man kann nicht wissen, was er geworden ist. Willst du auch Sonnenblumenkerne?”
“Ja, die mag ich gern.” Ich strecke die Hand aus.
“Die sind noch von Robert”, erklärt Devi. “Inge hat eine Riesenpackung gekauft, weil Sonnenblumenkerne sein Lieblingsessen sind, aber dann ist er ja gefressen worden.”
Wir kauen einmütig.
“Vielleicht ist er ja auch kein Dackel”, sagt Devi mit vollem Mund. “Vielleicht ist er ja auch ein Löwe.” Sie schüttet mir neue Kerne auf die Hand.
“Oder ein Kamel”, schlage ich vor.
“Oder ein Delphin”, meint sie. “dann könnte ich mit ihm schwimmen.”
“Aber wie willst du ihn erkennen? Er könnte ja alles sein.”
“Oh”, sagt Devi überzeugt, “ich würde ihn immer erkennen. Er ist bestimmt noch genau so, wie als Hamster.”
“Meinst du? Wie war er denn da?”
“Nett war er, und mochte Sonnenblumenkerne, und ist immer nachts rumgerannt und hat dann den ganzen Tag geschlafen. Und er hatte ein braunes Fell, so wie deine Haare.”
Sie beäugt mich.
“Ja, genau wie deine Haare. Und du bist auch nett und magst Sonnenblumenkerne... Und du heißt Robert!”
Sie wackelt auf ihrem Sitz herum und ich greife schon mal vorsorglich nach dem Flötenkasten.
“Aber Devi, ich bin doch kein Hamster”, sage ich lachend.
“Nein, jetzt natürlich nicht mehr, aber vorher!”
“Das kann doch gar nicht sein.”
“Doch! Doch, ich weiß es genau. Du hast es nur vergessen.” Sie hüpft auf dem Sitz auf und ab. “Rennst du immer noch nachts rum und schläfst den ganzen Tag?”
“Naja”, gebe ich zu, “schon des öfteren...”
“Siehst du!” ruft Devi begeistert.
“Quatsch”, versuche ich es noch einmal. “Selbst wenn ich an die Wiedergeburt glauben würde, könnte ich niemals dein Hamster sein.” Ich biege in die Karl-Marx-Allee ein.
“Warum nicht?”
“Na weil... weil du doch gesagt hast, er war ein besonders netter und guter Hamster. Also wird er dann auch ein guter Mensch. Und ich bin nicht gut. Ich bin ein Versager. Ich kriege nichts auf die Reihe und vergesse immer alles.”
“Genau wie Robert”, sagt Devi nickend. “Der hat auch immer seine Sonnenblumenkerne in die Ecke getragen und sie dann vergessen. Und weil da überall Erde war in seinem Aquarium, sind sie dann da gewachsen.” Sie zeigt auf ein hübsches altes Haus. “Guck mal, da vorne wohnt meine Omi. Willst du mitkommen? Dann zeig ich dir das Loch, das du in den Teppich gefressen hast, als ich vergessen habe, dich wieder ins Aquarium zu tun.”
“Ich kann leider nicht, Devi”, sage ich. “Ich muss weiter Leute mit meinem Taxi herumfahren.”
“Hm.” Sie ist ein bisschen enttäuscht. “Aber du kommst mich mal besuchen?”
“Ja. Das mache ich gerne. Wie heißt denn deine Omi mit Nachnamen? Dann kann ich anrufen.”
“Magnus heißt sie.”
Für die Zwischenzeit schenkt mir die kleine Göttin noch die Tüte mit den Sonnenblumenkernen, dann hüpft sie zum Haus.
An der nächsten Ecke fahre ich rechts ran. Ich stopfe mir eine Handvoll Kerne in den Mund und suche mein Handy.
“Hamster”, sage ich, als Julia abnimmt.
“Was? Robert? Lass den Blödsinn. Was willst du?”
Geschickt schiebe ich den Kernklumpen in die Backentasche.
“Ich sollte doch herausfinden, wer ich bin.”
“Warum redest du so undeutlich?”
“Das liegt an den Kernen.”
“Was?”
“Sonnenblumenkerne.”
“Du hast den Mund voll. Na klasse.” Ich kann beinahe hören, wie sie die Nase rümpft. “Also sag schon, was du sagen willst, ich habe keine Zeit.”
“Ein Hamster.” Ich schiebe mir noch mehr Kerne in den Mund. Unglaublich, was alles in die Backen passt, wenn man sich ein wenig Mühe gibt. “Ich bin ein Hamster, Julia. Und du hattest wohl Recht, dass wir nicht zusammenpassen. Hamster und Schnepfe, das konnte ja nichts werden.”

 

© Carolin Schlipf MMI