Gäule

„Hüah, hüah!“ Der Reiter stieß seine schlammigen Hacken in den warmen Pferdebauch.
„Selber hüah, Blödmann“, murmelte das Pferd ärgerlich. Es bewegte sich keinen Zentimeter.
„Hüah, Norbert, nun mach schon!“ Der Reiter zerrte an den Zügeln, aber Norbert schnaubte nur verächtlich durch das Gebiss.
„Alles in Ordnung, Mausi?“, hörte er den Reiter rufen. „Hast du dir wehgetan?“
„Nein, nichts passiert.“ Mausi rappelte sich wieder auf und klopfte das Gras von ihrer Hose. Misstrauisch betrachtete sie den Apfelschimmel, der sie abgeworfen hatte.
„Er hat einfach gebockt, ich weiß auch nicht, warum.“
René, der Apfelschimmel, grinste unverschämt.
„Blöder Esel“ grummelte Norbert unter seinem Reiter. „Warte, bis wir im Hof sind, dann werde ich dir meine neuen Hufeisen in den...“
Eine warme Pferdenase stieß beruhigend gegen seinen Hals. Sie gehörte Alfred, seinem besten Freund.
„Lass gut sein, Norbert.“ Alfred war für seine Ausgeglichenheit bekannt.
„Gäule wie der, die ihre Reiter einfach auf die Wiese setzen, sollten disqualifiziert werden.“ Norbert schnaubte wieder. „Der hat einfach keinen Sportsgeist. Naja, Apfelschimmel. Was soll man da auch erwarten.“
„Höre, Sohn eines Ackergauls“, sagte Alfred mit pikiertem Unterton und kräuselte die Lippen, wie es Renés Art war. „Ich entstamme dem französischen Hochadel und verbitte mir die Bezeichnung Apfelschimmel. Ich bin ein cheval pommelé...“
„Papa, Papa, Hilfe!“ Das kleine Mädchen auf Alfreds Rücken krallte sich in die Mähne, als ihr Reittier unkontrolliert zuckte und prustete.
„Keine Angst, Herzchen.“ Papa streckte einen Arm aus, um seine Tochter im Sattel zu halten, schwankte aber selbst auf seinem zuckenden Pferd.
„Mein Name ist René“, kicherte Norbert. „René mit accent aigu, und ich habe die glänzendsten Hufe diesseits der Seine...“
Neue Lachkrämpfe schüttelten die beiden Pferde.
„Hat er heute morgen wieder?“ prustete Alfred.
„Aber ja.“ Norbert bog den Hals abwärts, schielte unter seinen Bauch und hob das rechte Hinterbein.
„Pschht“, machte er, als würde er Wasser lassen. „Pschhhhht...“
Alfred konnte sich kaum noch auf den Hufen halten.
„Lach nur, Ackergaul“, säuselte Norbert mit gekräuselten Lippen. „In meinen Kreisen legt man eben Wert auf ein gepflegtes Äußeres. Nichts lässt die Hufe so glänzen wie Morgenurin...“
„Idioten“, sagte eine hochnäsige Stimme.
Norbert sah apfelschimmelige Beine neben sich und hob feixend den Kopf.
Mausi saß wieder im Sattel und erklärte Papa und dem verschreckten Herzchen, dass sie auch nicht wisse, was mit den Gäulen heute los sei und sie wohl besser zum Hof zurückreiten sollten. Auffordernd ließ sie die Zügel auf Renés Hals klatschen.
„Wenn ihr mit eurem kindischen Gekicher fertig seid“, wandte René sich unbeeindruckt an Alfred, „bitte ich festzuhalten, dass wir in der heutigen Runde Abwurfsgleichstand haben. Im Gesamtklassement des Hofes bekleide ich damit den ersten Rang vor Norbert auf dem zweiten Platz und vor dir, Alfred, auf dem... nun ja, wo auch immer dein Platz sein mag.“
Mit einem herablassenden Blick stolzierte er davon.
„Hüah!“ Papa versuchte es noch einmal mit Hackentritten in Norberts Bauch.
„Dungfresser!“ grollte Alfred, als sie sich widerwillig in Bewegung setzten. „Ich liege nur so weit hinten, weil man mir immer die Kinder anvertraut.“
„Du hast eben ein gutes Herz, Alfred“, sagte Norbert. „Nicht wie dieser Rüpel. Der würde sogar ein Kind abwerfen, um zu gewinnen. Der wirft ja auch mitten auf der Wiese ab.“
„Ja, das war wirklich stillos“, pflichtete Alfred bei. „Aus dem Stand bocken und seitlich werfen, das kann ja jedes Fohlen. Wenigstens einen gestreckten Risthebel hätte er ansetzen können. Das ist das mindeste auf ebenem Grund.“ Er warf einen Blick auf die schlammigen Stiefel von Norberts Reiter. „Dein Wurf sollte eigentlich doppelt zählen. Einen sauberen Stemmstoß aus vollem Lauf schaffen die wenigsten. Und dann noch bergauf und zielgenau. Die Pfütze war ja wirklich nicht groß.“
„Danke“, erwiderte Norbert geschmeichelt. „Ich war selbst nicht sicher, ob ich es schaffen würde, vor allem wegen der Bäume. Einen Wurf durch so einen schmalen Stammabstand  habe ich noch nie versucht.“
„Es war ein ästhetischer Genuss“, lobte Alfred.
„Aber der Dungfresser liegt trotzdem wieder einen Punkt vor mir“, ärgerte sich sein Freund. „Wenn ich noch einen Vollabwurf schaffen würde, zwei Punkte... aber wo nur?“
Sie bogen auf die Straße ein, die zum Hof führte. Am Zaun der Koppel drängte sich die gesamte Hofherde und trat sich vor Aufregung gegenseitig auf die Hufe. René wartete zwischen den Pfeilern der Einfahrt.
„Da steht er“, giftete Alfred. „Genau vor der Ziellinie. Wenn du jetzt punktest, wird er noch so einen üblen Fohlenwurf hinlegen. Ignoriere ihn einfach. Morgen ist auch noch ein Tag... Norbert?“
Sein Freund sah von der Herde zu René.
„Los, Norbert“, rief die schöne Gunilla. „Zeig‘s ihm!“
Mit einem Schnauben galoppierte Norbert los. Er hörte kaum die Schreie seines Reiters, fühlte nicht den Schmerz des Gebisses, das an seinem Maul riss. Nur noch ein paar Meter. Renés hochmütiger Blick wich der Unsicherheit. Noch drei Sprünge, noch zwei, einer...
Norbert stemmte die Hufe auf den Asphalt. Spreizte die Vorderbeine. Federte in den Knien, duckte sich, und schnellte mit dem Hinterteil in die Höhe. Die Herde wieherte begeistert. Eine perfekt gegrätschte Hockschleuder besaß den höchsten Schwierigkeitsgrad. Norberts Reiter prallte gegen Renés Brust. Der Apfelschimmel taumelte rückwärts über die Ziellinie.
Applaus brandete auf. Alfred war als erster bei ihm, um ihm zu gratulieren. Dann trabte Norbert auf die Ehrenrunde vor der Koppel. Die Hochrufe nahmen kein Ende. Und Gunilla streckte ihren Kopf über den Zaun, um an seinem Hals zu knabbern.

 

© Carolin Schlipf MMII