Dienstag

 

"Mü-abf", verkündete Jonas zum dreiundzwanzigsten Mal an diesem Morgen. "Mü-abf komm heute, Mama?"
"Ja, Schatz, heute kommt die Müllabfuhr."
"Gucke."
"Ja, wir gucken. Erst gucken wir der Müllabfuhr zu und dann gehen wir mit deiner Schwester zum Arzt." Ellen dockte die schläfrig nuckelnde Meike ab, legte sie an die andere Seite und schob ihr eine frische Brustwarze in den Mund.
"Wann Mü-abf?" fragte Jonas und sah ungeduldig zum Fenster.
"Gleich. Wenn Meike fertig getrunken hat."
"Geich." Er nickte.
Ellen warf einen Blick auf die Uhr. Viertel nach zehn. Zwischen zehn Uhr zwanzig und zehn Uhr siebenundzwanzig bog der Müllwagen gewöhnlich um die Ecke. Dann musste Jonas auf dem Balkon stehen und begeistert auf die Straße starren, vom ersten Aufblitzen des Kotflügels zwischen den Bäumen bis zum Scheppern der letzten stinkenden Tonne. Sonst war der Tag gelaufen.
Ellen sah wieder auf die Uhr. Zehn Uhr siebzehn.
"Du hast noch zwei Minuten, Liebes", teilte sie dem Baby an ihrer Brust mit. Meike nuckelte zufrieden weiter und ihre Mutter lächelte. Sie lagen gut in der Zeit.

 


Zwei Stockwerke höher kehrte Maren in ihren Körper zurück, als ihr Mann sich von ihr herunterrollte. Sie blieb bewegungslos liegen, die Augen geschlossen, und erforschte ihren Zustand. Die Schulter tat weh, eine Prellung vermutlich. Schlimmer war ihre Seite, wo er sie getreten hatte. An der Brust schien sie eine Kratzspur zu haben, eine kleinere am Bein. Dazu der übliche brennende Schmerz im Unterleib.
Nicht allzu schlimm heute. Er hatte ihr Gesicht verschont, sie würde das Haus verlassen können. Falls sie sich dazu aufraffen konnte.
Hannes kam pfeifend aus dem Bad. Marens Magen verkrampfte sich. Sie wartete angespannt, einen Atemzug, zwei, drei, dann hörte sie endlich das Klappern des Schuhschranks. Erleichtert entspannte sie sich. Er würde nicht zurückkommen. Wie gewöhnlich ging er joggen, bevor er zum Spätdienst fuhr.
Spätdienst. Allein das Wort ließ ein flaues Gefühl in ihr aufsteigen. Abends schlug Hannes sie selten, morgens jedoch ließ er seinen Aggressionen gerne freien Lauf. Er prügelte sie, bis er vor Erregung keuchte, dann stieß er sie aufs Bett, um ihr zu zeigen, wo ihr Platz war: unter ihm. Es war leichter geworden, seit Maren gelernt hatte, fortzugehen. Wenn er sich ihr aufzwang, schloss sie die Augen und verschwand. Sie wusste nicht, wohin sie ging. Es war kein bestimmter Ort. Es war einfach nur nicht hier.
Die Wohnungstür fiel ins Schloss. Maren stand vorsichtig auf, bewegte prüfend die schmerzende Schulter und rieb sich die Seite. Sie nahm die Antibabypille für diesen Tag aus der Packung und verstaute die Schachtel wieder sorgfältig in einem Paar dicker Wollsocken im hintersten Winkel ihres Wäscheschranks. Trotzig spülte sie die Pille in der Küche mit einem Schluck Wasser herunter.
Sie wusste nicht, ob sie jemals den Mut aufbringen würde, Hannes zu verlassen, das Fiasko ihrer Ehe zuzugeben, die mitleidigen Blicke der Bekannten zu ertragen und schließlich auf sich allein gestellt zu sein, ohne Ausbildung, ohne Geld, ohne Sicherheit. Sie war schwach, ja, wie Hannes stets sagte. Sie war ein Feigling und nicht viel wert, da stimmte sie ihm zu, aber zumindest brachte sie den Mut auf, kein Kind von ihm auszutragen. Mochte er sie noch so oft beschimpfen als frigide und unfruchtbar, wenigstens in diesem Punkt würde sie ihm nicht zu Willen sein. Eine armselige Auflehnung, dachte sie bitter, eine armselige heimliche Auflehnung, aber andererseits war ihr ganzes Leben ein heimliches: Heimlich hatte sie Hannes geheiratet, ihre Ausbildung abgebrochen und war mit ihm aus ihrem Heimatort weggezogen, stillschweigend ließ sie sich von ihm misshandeln und versteckte die Spuren, die er auf ihrem Körper hinterließ, und heimlich verweigerte sie ihm den Teil von sich, über den sie noch selbst bestimmen konnte.
Der Morgen war warm. Maren sah vom Balkon aus zu, wie Hannes das Haus verließ. Er joggte an den Mülltonnen vorbei, die bereits aus ihrem Verschlag gerollt worden waren und wartend am Ende der steilen Auffahrt standen, und setzte im Laufen seinen Walkman auf. Am Fuß der Auffahrt angekommen, wandte er sich nach links und verschwand hinter den Bäumen. Sie wünschte ihm gewohnheitsmäßig einen schweren Unfall und zündete sich eine Zigarette an.

 


Auch Sven sehnte sich nach einer Zigarette. Er ärgerte sich, und immer, wenn er sich ärgerte, wollte er rauchen.
"Immer noch nichts zu sehen, Junge?" fragte der Alte in seinem Ohrensessel.
"Nein." Sven sah aus dem Wohnzimmerfenster. Vom Erdgeschoß aus konnte er ohnehin nur bis zur Auffahrt sehen, die Straße lag zu tief.
"Ich frag mich, wo die bleiben", grummelte der Alte. "So spät waren die noch nie dran."
Und ich auch nicht, dachte Sven.
"Weiß nicht, wofür die sich halten. Bringen einem den ganzen Tag durcheinander. Als hätte ich sonst nichts zu tun."
"Als hättest du überhaupt was zu tun", murmelte Sven ärgerlich, "außer Zivis zu schikanieren." Er sah auf die Uhr. Zwanzig vor elf. In zehn Minuten kam sein Bus, der nächste erst in einer halben Stunde. Dann konnte er es vergessen. Er warf wieder einen Blick aus dem Fenster. Immer noch kein Müllwagen.
Er sollte einfach sagen, dass er heute keine Zeit hatte, dass er in der Freistunde bis zum nächsten Patienten einen dringenden Termin hätte. Das Ganze war lächerlich. Als ob irgendwer sich für  anderleuts Müll interessierte. Aber seit der spinnerte Alte ein paar Kinder gesehen hatte, die an den Tonnen fummelten, zwang er Sven jeden Dienstag, am Fenster zu stehen. Erst wenn der Müllwagen die Auffahrt herauf kroch, durfte Sven losrennen und die wöchentliche Tüte vertrocknetes Brot und angeschimmelte Leberwurstreste abliefern. Die Müllmänner kannten ihn schon. Es war peinlich.
Und ausgerechnet heute kamen sie zu spät. An jedem anderen Dienstag wäre es ihm egal gewesen, wo er seine Pause vertrödelte, aber heute Abend ging er mit Tanja ins Kino. Das Date seines Lebens. Tanja sah fantastisch aus, sie hatte bestimmt schon Erfahrung. Das hatten seine Kumpels auch gesagt. Und sie hatten gesagt, wenn Tanja mit ihm ins Kino ging, dann standen seine Chancen gut, dass sie etwas von ihm wollte. Vielleicht würde er sie küssen. Vielleicht würde er sogar mehr als sie küssen. Vielleicht würden sie hinterher zu ihr gehen und - Aber ein Mädchen wie Tanja wollte bestimmt einen richtigen Kerl. Und er war eine gottverdammte Jungfrau. Und das würde er auch bleiben, wenn die Müllabfuhr nicht bald kam. Verzweifelt sah er wieder auf die Uhr. Noch sieben Minuten bis zum Bus. Er musste in die Stadt. Er wusste genau, wo er hinwollte, früher hatte er ein paar Mal mit Freunden an der Straßenecke herumgelungert und sie hatten auf die Frauen gestarrt, die sich aus den Zimmern lehnten, die Brüste aufs Fensterbrett gedrückt. Er würde all seinen Mut zusammennehmen und sich eine aussuchen. Eine, die freundlich aussah, der er sagen konnte, dass er ein bisschen Übung brauchte, um sich heute Abend nicht zu blamieren.
Hoffentlich hatte der Puff morgens überhaupt auf.
"Geh mal raus, Junge", hörte er den Alten in seinem Rücken, "und sieh nach, wo die bleiben."
Wo soll ich da nachsehen, dachte Sven genervt. Er ließ die Wohnungstür offen und trat vor das Haus. Keine Spur von der Müllabfuhr. Frustriert ließ er die Schultern hängen. Es hatte keinen Sinn. Er würde den Bus verpassen. Der Abend war gelaufen. Er konnte nur hoffen,
dass Tanja ihn nicht wollen würde. Das Dumme war nur, dass er sie wollte. Er seufzte und kramte in seiner Jackentasche nach einer Zigarette. Gerade, als er sie anzündete, stürzte eine Frau aus der Haustür hinter ihm und rannte ihn um.
Er fiel schmerzhaft auf die Knie.
"He!", rief er, "was soll das? Können Sie nicht aufpassen?"
Sie drehte sich kurz nach ihm um, sagte etwas Unverständliches, blieb aber nicht stehen. In jeder Hand trug sie eine große Plastiktüte. Ihr Gesicht war verweint. Verwirrt sah Sven ihr nach.

 


Irmgard hastete den Gehweg entlang zu den Mülltonnen. Sie stellte eine Tüte ab, riss die erste Tonne auf, holte mit der anderen Tüte aus, um sie schwungvoll hineinzuschleudern, und brach dann in der Bewegung ab. Es war kein Platz. Die andere Tonne lief ebenfalls fast über. Enttäuscht lehnte sie ihre Tüten an die Tonne und trat einen Schritt zurück. Aber es fühlte sich nicht gut an. Es erleichterte sie nicht. Sie wollte seine Sachen nicht hier abstellen in der Hoffnung, dass sie mitgenommen würden. Sie wollte sie vernichten. Schnell sah sie sich um. Ein paar Schritte rechts war eine Lücke in dem Zaun, vor dem die Tonnen standen. Dahinter lag ein Stück Niemandsland mit ein paar Bäumen. Sie nahm die Tüten wieder auf und schlüpfte durch den Zaun.
Die Tränen kamen zurück, als sie anfing, ihre Erinnerungen aufzustapeln. Bücher, die er vergessen hatte. Ein paar Socken. Eine hässliche Vase, Mitbringsel von einer Dienstreise. Fotos. Die Tasse, aus der er immer getrunken hatte. Noch mehr Fotos. Eine Flasche Wein, zusammen in der Toskana gekauft, für einen besonderen Moment, der nie kam. Ein Rasierpinsel, ein Korkenzieher, ein - Sie hielt inne und griff wieder nach dem Korkenzieher und dem Toskanawein. Für einen besonderen Moment. Nun, das hier war wohl ein besonderer Moment. Schniefend öffnete sie die Flasche.

 


Jonas stand derweil noch immer auf dem Balkon.
"Es tut mir Leid, Schatz", hatte Ellen schon dreimal zu ihm gesagt, "ich weiß auch nicht, warum die Müllabfuhr heute nicht kommt, aber wir können nicht mehr lange auf sie warten. Wir müssen gleich zum Arzt."
"Nein! Nein! Mü-abf!" Jonas hatte jedes Nein mit einem kräftigen Aufstampfen unterstützt und sein böses Gesicht gemacht, bei dem Ellen sich stets zusammenreißen musste, um ihn ernst zu nehmen.
"Mama", rief er jetzt und kam zu ihr ins Wohnzimmer gelaufen. "Mama, hab was gesehn."
"Was denn?"
"Frau."
"Eine Frau? Auf der Straße? Und was macht sie?"
"In Zaun gegangt," berichtete Jonas stolz.
"In den Zaun?"
"Ja, in Zaun gegangt. Geh gucke." Er rannte zurück auf den Balkon.
"Ich brauche hier nur noch einen Augenblick, Jonas, dann müssen wir gehen", rief Ellen ihm nach, froh, dass er für den Moment von der Müllabfuhr abgelenkt war. Sie setzte Meike auf ihrem Schoss zurecht und wandte sich wieder dem Computer zu.
"So, Liebes, schön sitzen bleiben", sagte sie zu ihrer Tochter und begann zu tippen. "Nur noch eine Überweisung. Das geht ganz schnell. Komm, lass die Tastatur in Ruhe. Dann müssen wir Jonas überreden, eine saubere Hose anzuziehen, das gibt wieder Theater. Bis ich euch im Auto habe, ohne dass er sich gleich wieder im Dreck wälzt, sind es noch mal zehn Minuten, dann wird es schon langsam knapp. Wenigstens bist du schon sauber und angezogen. Finger weg, Meike, so kann ich nicht tippen. Ich bin gleich fertig." Sie griff ihre Tochter um den Bauch und zog sie ein Stück hoch, um ihre Hände vom Tisch zu lösen. Meike kippte nach vorn, machte ein ordentliches Bäuerchen und spuckte eine Ladung halbverdaute Milch in die Tastatur. Als Ellen sie zurückriss, verteilte sich die zweite Ladung über Meike und sie selbst.
"Scheiße", sagte Ellen nur. Und der Tag hatte so gut angefangen.
"Mama, Mama, noch was gesehn!" Jonas kam wieder angelaufen.
"Keine Zeit Jonas, ich muss Meike umziehen. Und mich. Und du kommst auch gleich mit."
"Aber - "
"Kein Aber. Wir kommen zu spät. Jedes Mal kommen wir zu spät, weil irgend so eine Scheiße passiert." Fluchend setzte Ellen Meike auf ihre Hüfte und zerrte Jonas hinter sich her. Die Tastatur überließ sie ihrem säuerlich riechenden Schicksal.

 


Was Jonas hatte erzählen wollen, war, dass schon wieder jemand durch den Zaun gegangen war.
Diesmal war es Sven.
Ich habe ein zu gutes Herz, dachte er, als er die Frau, die ihn umgerannt hatte, auf dem Boden sitzen sah. Sie packte ihre Tüten aus und trank zwischendurch aus einer bereits halbleeren Weinflasche. Er hatte gemeint, ein Schluchzen zu hören, als er vor der Haustür stand, seine Zigarette rauchte und sich fragte, warum sie ihre Mülltüten nicht bei den Tonnen gelassen hatte. Und er hatte Recht: Sie weinte.
Mist, dachte er. Was mache ich eigentlich hier? Muss ich wieder den Zivildienstleistenden raushängen lassen, edel, hilfreich und gut? Als ob mein Tag nicht schon genügend ruiniert wäre.
"Entschuldigung, hallo?" Er ging zögernd auf die Frau zu. "Kann ich Ihnen irgendwie helfen?"
Sie sah aus verweinten Augen zu ihm auf.
"Lass mich in Ruhe - Nein, hast du Feuer?"
Er reichte ihr sein Feuerzeug. Zu seinem Entsetzen begann sie, das Häufchen Bücher, Fotos und andere Dinge vor sich in Brand zu setzen.
Er versuchte, ihr das Feuerzeug wieder wegzunehmen, aber sie stieß ihn unwirsch zur Seite.
"Lass mich. Das sind meine Sachen, damit kann ich machen, was ich will."
Sven traute sich nicht, sie allein zu lassen. Wohlmöglich setzte sie den Baum, unter dem sie saß, in Brand. Er hockte sich neben sie und zog eine Flasche unter einem Buch hervor, das gerade Feuer fing.
"Ah ja, gute Idee", sagte die Frau, nahm ihm die Flasche ab und griff nach dem Korkenzieher, der neben ihr lag. Sven hatte eigentlich nur verhindern wollen, dass die Flasche platzte und jemanden verletzte, aber als sie ihn aufforderte, nahm er trotzdem einen Schluck. Es war Portwein. Mochte er eigentlich gar nicht. Aber an einem Tag wie heute war ihm alles recht. Hauptsache, es hielt ihn noch länger von dem Alten fern, der Schuld war, dass er den Bus verpasst hatte.
"Warum verbrennen Sie die Sachen?" fragte er neugierig.
"Er hat sie geschwängert", antwortete die Frau dumpf.
"Wer? Wen?"
"Seine neue Flamme. Er hat sie geschwängert. Mit Absicht! Und jetzt heiratet er sie. Er hat mich eingeladen. Wo wir doch so gute Freunde sind, ha, gute Freunde!" Sie trank wieder aus ihrer Flasche und Sven schloss sich mit seiner an. "Ich hoffe, sie kriegt Sechslinge", setzte die Frau hinzu.
"Er ist Ihr Exmann?"
"Nein." Sie schüttelte den Kopf und schluchzte. "Nein, nicht mein Mann. Nur meine, meine -" Wieder ein Schluchzen: "Meine große Liebe. Acht Jahre waren wir zusammen. Er hat immer gesagt, das Wichtigste ist, dass man weiß, was man will. 'Und wir beide, Irmgard', hat er immer gesagt, 'wir beide sind nicht geschaffen zum Heiraten und Kinderkriegen. Wir hängen doch viel zu sehr an unserer Freiheit.'" Sie zog die Nase hoch. "Und ich habe es mir eingeredet. Dabei, an welcher Freiheit habe ich denn gehangen? Dass er ohne mich auf seine ewigen Dienstreisen fuhr? Dass ich abends alleine ausgehen konnte, weil er ohnehin nicht mitkommen wollte? Und vor zwei Jahren ist er nach München gezogen. Hatte einen neuen Job. Gute Freunde sollten wir bleiben. Und ich - ich habe mitgespielt. Ich wollte ihn nicht ganz verlieren." Sie weinte wieder.
Sven wusste nichts zu sagen und trank noch ein bisschen Portwein. Gescheiterte achtjährige Beziehungen waren nicht sein Gebiet.
"Warum sind Sie nicht nach München mitgegangen?" fragte er schließlich.
"Er hat mich nicht gefragt", schluchzte Irmgard. "Ich bin Lehrerin, verbeamtet, krisensicherer Job, du weißt schon. Da geht man nicht einfach weg. Da gibt man nicht seine sichere Stelle auf und macht sich abhängig. Schon gar nicht, wenn man an seiner gottverdammten Freiheit hängt." Sie machte eine Pause, ergriff einen Bilderrahmen, der erst an einer Ecke brannte, und schob den Scheiterhaufen in Form. "Und jetzt hat er sie geschwängert", sagte sie wieder. "Und er heiratet. Nichts mehr mit Freiheit. Nichts mehr mit 'ich bin nicht geschaffen für eine Familie'. Alles eine Lüge. Und das Schlimmste ist, dass ich mich selbst auch angelogen habe. Ich hätte gerne geheiratet. Und Kinder gehabt. Vielleicht wäre ich sogar eine gute Mutter gewesen. Aber stattdessen habe ich acht Jahre an ihn weggeworfen. Ach was, zehn Jahre, ich habe doch keinen mehr angesehen seither. Jetzt bin ich einundvierzig und allein. Ich werde nie eine Familie haben, nie." Sie stieß den Bilderrahmen in die Flammen, legte den Kopf auf die Arme und weinte verzweifelt.
Sven sah unbehaglich zu, dann legte er vorsichtig einen Arm um ihre Schultern.
"Hey, hey", murmelte er und kam sich sehr komisch vor, eine Frau zu trösten, die fast seine Mutter hätte sein können. "Ist ja gut."
Irmgard kuschelte sich an ihn und weinte in sein Hemd. Zögernd streichelte er ihr übers Haar, bis sie ruhiger wurde und den Kopf hob. Ihr Gesicht war nur eine Handbreit von seinem entfernt. Sven bekam einen heißen Kopf und schob es auf den Portwein. Die Flasche war fast leer. Und das war bestimmt auch der Grund, sagte er sich, dass er plötzlich eine aberwitzige Idee hatte.

 


Ellen hielt mit einer Hand die Haustür auf und schob mit der anderen den Kinderwagen hindurch.
"Jonas, komm jetzt bitte", ermahnte sie ihren Sohn, der an den Briefkästen herumfummelte. Warum dauerte nur alles immer so lange? Wieso war es schweißtreibende Schwerstarbeit, zwei kleine Kinder - und sich selbst - in vertretbarem Zustand zum Arzt zu bringen? Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal irgendwo pünktlich hingekommen war.
"Jonas! Komm jetzt her, ich halte die Tür nicht zum Spaß auf!"
Ihr Auto war unten geparkt, gleich gegenüber der Auffahrt. Ellen seufzte schon bei dem Gedanken daran. Als ob das Leben für Mütter kleiner Kinder nicht schon widrig genug gewesen wäre, war sie auch noch mit dieser Karre geschlagen. Geschenk vom Schwiegeropa, ein Zweitürer, eine feine Sache, als sie noch keine Kinder hatten. Jetzt war es jedes Mal ein elendes Gewürge, bis sie Jonas in seinem Kindersitz auf der Rückbank angeschnallt hatte. Und jedes Mal die Räder vom Kinderwagen abzumontieren, um ihn in den Kofferraum zu bekommen, war auch nicht ihre Lieblingsbeschäftigung. Mochte ja sein, dass der Opa ein Jahr nicht mit ihnen sprechen würde, wenn sie das Auto verkauften, aber im Gegensatz zu ihrem Mann hielt Ellen das für einen annehmbaren Preis.
Sie hatte gerade die Haustür hinter sich zufallen lassen, als diese wieder geöffnet wurde.
"Warten Sie", sagte der alte Mann aus dem Erdgeschoss und arbeitete sich vorsichtig die zwei Treppenstufen hinab. Er stützte sich schwer auf seinen Stock.
"Haben Sie hier einen jungen Mann gesehen? Mein Zivildienstleistender. Er wollte nur nachsehen, wo die Müllabfuhr bleibt, jetzt ist er schon eine halbe Stunde weg. Weiß nicht, was der sich denkt."
"Nein", sagte Ellen, "nein, tut mir Leid ich habe niemanden gesehen. Und ich muss jetzt auch dringend los, ich -"
Der alte Mann packte sie am Arm. "Aber er muss hier irgendwo sein. Der läuft doch nicht einfach weg. Ist nämlich eigentlich ein guter Junge."
"Hören Sie, ich habe wirklich -"
"Wollte halt nur nach dem Müllwagen sehen. Der war immer noch nicht da, oder? Sowas hab ich auch noch nie erlebt."
Ellen wandte sich ungeduldig ab und sah, wie Jonas den Gehweg entlang wackelte.
"Jonas!" Sie riss ihren Arm los. "Passen Sie mal eben auf den Kinderwagen auf, ja?" sagte sie zu dem alten Mann, trat die Fußbremse fest und rannte hinter ihrem Sohn her, als dieser gerade durch das Loch im Zaun stieg.

 


Irmgard konnte nicht fassen, wie es dazu gekommen war. Hatte sie ihn zu dem alten Zaun gedrängt oder war er es gewesen, der sie auf den verwitterten Pfahl hob und ihre Beine spreizte? Die morschen Latten knirschten gefährlich in ihrem Rücken. Ihre Hose war an ihrem rechten Fuß hängen geblieben und schwang mit jedem Stoß hin und her.
Sie war betrunken. Sie war betrunken und ließ sich hier von einem Fremden - An einem Zaun. Von einem halben Kind. Oh Gott, dachte sie, hoffentlich ist er überhaupt volljährig. Sie packte ihn an den Schultern, um ihn wegzuschieben, da sah sie plötzlich einen kleinen Jungen. Er stand in einem Sonnenstrahl zwischen den Bäumen wie eine leuchtende Vision. Und mit einemmal wusste sie, dass es die richtige Zeit war, dass es geschehen würde, jetzt, genau jetzt. Sie drängte sich enger an ihren Liebhaber, um ihr Kind in Empfang zu nehmen.
Sie waren gerade bei der Übergabe, als der kleine Junge die Vision verließ. Er stolperte ein paar Schritte auf sie zu, kratzte sich an der Nase und lachte.

 


Ellen umrundete die Mülltonnen und wollte eben durch die Zaunlücke steigen, als sie das leise Keuchen hörte. Sie blieb wie angewurzelt stehen. Es kam von hinter den Tonnen. Ein paar Zaunlatten wackelten. Dann hörte sie Jonas.
"Was macht ihr? Sieht komisch aus."
Ein erschreckter Schrei ertönte, zweistimmig, dann das krachende Bersten von morschem Holz. Der baufällige Zaun stürzte um und prallte gegen die Mülltonnen. Sie rollten vom Gehweg und klapperten auf die Auffahrt. Die eine fiel um, doch die andere rollte scheppernd die steile Auffahrt herab und wurde immer schneller. Entsetzen durchfuhr Ellen, als sie den Jogger sah, der auf die Auffahrt zulief. Er trug einen Walkman.
"Vorsicht!" schrie sie, "Vorsicht!" Aber er hörte sie nicht. Gerade, als er in die Auffahrt einbog, erfasste ihn die Mülltonne, riss ihn mit sich und schmetterte ihn ungebremst in Ellens Auto.

 


Oben auf ihrem Balkon stieß Maren den angehaltenen Atem aus und löste ihre verkrampften Finger von der Brüstung. Langsam, ganz langsam sank sie auf einen Stuhl und zündete sich eine Zigarette an, den Blick unverwandt auf die Straße gerichtet.

 

 

 

© Carolin Schlipf MMIII