Léman

 

Daphne saß auf dem Rand des Springbrunnens, wippte im Takt der Trommeln mit den Beinen und betrachtete Joséphine. Makellos schön wie immer, die Locken mit einem Kamm aufgesteckt, thronte diese in der Brunnenmitte auf ihrem Sockel. Das Hüfttuch fiel in Falten über ihre Beine, unter ihren Füssen lag eine Amphore, aus der klares Wasser floss. Sie stützte den Kopf in eine Hand und hielt den Blick auf die Muscheln in ihrem Schoss gesenkt. Ihr Oberkörper war unbedeckt.
Vor Jahren, als die Rocksäume fast in Kniehöhe rutschten und Maman sich zusehends erregte über den skandalösen Sittenverfall, hatte Daphne den Fehler begangen, zu fragen, wieso Damen nicht ihre Waden zeigen sollten, wenn es doch niemanden störte, dass Joséphine mit nackter Brust im Garten saß.
Es war eine teure Frage gewesen.
Für die Kritik an den Ansichten ihrer Mutter hatte man sie ohne Abendessen ins Bett geschickt und am nächsten Sonntag vom Uferspaziergang nach dem Kirchgang ausgeschlossen. Die Erwähnung gewisser Teile der weiblichen Anatomie hatte ihr einen Tadel eingebracht. Und war sie nicht gewarnt worden, ihre unziemliche Phantasie im Zaum zu halten? Insbesondere nicht leblose Dinge mit Namen zu belegen, weder die Vögel im Relief des Kaminsimses, noch die Brunnenfigur? Ein weiterer Tadel wurde vermerkt.
"Du bist wirklich ungeschickt", hatte Chloé gesagt, während Daphne auf dem Bett saß und die Kekse aß, die ihre Schwester der Köchin abgeschwatzt hatte.
"Du musst erst nachdenken, bevor du eine dumme Frage stellst und Maman verärgerst. Und Joséphine darf im Brunnen sitzen, weil sie Griechin ist."
"Aber warum dürfen Griechinnen das und Damen nicht?"
"Das verstehst du nicht, du bist ja erst acht." Chloé hatte sich zur vollen Größe ihrer elf Jahre aufgerichtet. "Das ist nämlich Kunst."
Daphne tauchte eine Hand in den Brunnen. Das Wasser war angenehm kühl. Jahre waren vergangen, aber auch mit fünfzehn zeigte sie bedauerlich wenig Sinn für Kunst. Sie konnte nicht zeichnen wie Chloé, die mit leichter Hand Seelandschaften und Stilleben skizzierte, sie war auch nicht musikalisch wie Chloé, deren Klavierspiel stets die Gäste ihrer Eltern erfreute.
Daphnes Talente, so pflegte Maman seufzend festzustellen, lagen auf anderem Gebiet. Das Tadelbuch, das sie stets in Griffweite hielt, hatte ursprünglich zwei breite Spalten mit den Namen der Töchter enthalten. Doch da Chloés seltene Missgeschicke und Unachtsamkeiten kaum den Eintrag lohnten, war ihre Spalte immer weiter geschrumpft, um mehr Platz zu lassen für Daphnes unzählige Verfehlungen. Buch um Buch füllte Maman mit ihrer akkuraten Handschrift: Daphne erscheint vier Minuten verspätet zu Tisch, Daphne beschmutzt beim Spaziergang ihr Kleid, Daphne entwendet der Köchin mehrere Stücke Obst, Daphne sitzt untätig am Seeufer und träumt...
Vor jedem Theaterbesuch, jeder Einladung, jeder Einkaufsfahrt in die Genfer Innenstadt nahm Maman im Salon platz und rief ihre Töchter zu sich. Gesenkten Hauptes standen sie vor ihrem Sessel und warteten, Chloé mit der Gelassenheit des reinen Gewissens, Daphne mit bangem Herzen oder manchmal auch trotzig, wenn sie beschlossen hatte, dass ihr ohnehin nichts an dem geplanten Ausflug lag. Ihre Mutter schlug das Tadelbuch auf und fuhr mit dem Finger die Spalten entlang, zuerst die schmale, die üblicherweise leer war.
"Chloé, vorbildlich wie immer."
Sie nickte ihrer Erstgeborenen zufrieden zu. Dann folgte der unvermeidliche Seufzer, wenn sie den Blick auf die lange Liste mit Daphnes Vergehen senkte.
"Daphne." Ein weiterer schwerer Seufzer. "Dein Benehmen ist wirklich unzumutbar. Nein, du wirst uns nicht begleiten. Und wage es nicht, ein Gesicht zu ziehen! Du wirst zu Hause bleiben und Marie bei der Flickarbeit zur Hand gehen. Das gibt dir Gelegenheit, über deine Verfehlungen nachzudenken. Mon Dieu, warum kannst du nicht ein wenig mehr wie deine Schwester sein?"
Es war eine rein rhetorische Frage, denn Maman hatte die Rollen fest verteilt. Daphne war der dunkle Hintergrund, vor dem ihre Schwester erstrahlte.
Heute erstrahlte Chloé in besonderem Glanz. Es war ihr siebzehnter Geburtstag und nicht einmal Daphne war von der Feier ausgeschlossen worden. Seit dem Nachmittag bevölkerte die bessere Genfer Gesellschaft den großen Salon im Hause Guntlisberger, lustwandelte im Garten unter den laternengeschmückten Bäumen und sprach den Köstlichkeiten zu, unter denen sich die langen Tische auf der Terrasse bogen. Es war ein prachtvolles Fest. Vom Brunnenrand beobachtete Daphne das gute Dutzend junger Männer, die sich mit Trommeln und Rasseln auf der weiten Rasenfläche versammelt hatten und die Dämmerung mit fremdartiger Musik erfüllten.
Ihr Engagement war Chloés Wunsch gewesen. Maman hatte vor Empörung beinahe den Suppenlöffel fallen lassen. Diese brasilianische Sambakapelle, die zur Zeit in Genf gastierte? Selbstverständlich hatte sie von ihren Auftritten in den Nachtlokalen der Stadt gehört. Aber was um Himmels Willen war in Chloé gefahren, dass sie ernsthaft wünschte, einen Haufen sittenloser Ausländer für ihr Geburtstagsfest zu engagieren? Maman verwehrte sich strikt gegen ein solch unglaubliches Ansinnen. Monsieur Guntlisberger allerdings stand der ungewohnten Extravaganz seiner Tochter recht nachsichtig gegenüber.
"Wir leben in modernen Zeiten, Edwige", hatte er gesagt, "wir sollten uns dem Austausch mit fremden Kulturen nicht verschließen."
Edwige bemühte sich, beim Kulturaustausch eine gewisse Distanz zu wahren. Sie hatte sich mit dem Großteil der älteren Herrschaften in den Salon zurückgezogen, um dem gottlosen Lärm zu entfliehen. Zierlich an einer Tasse Tee nippend betonte sie ihre Toleranz gegenüber diesem närrischen Einfall ihres Gatten.
Daphne mochte den treibenden Rhythmus der Trommeln. Eine Gruppe junger Leute umstand die Musiker und klatschte begeistert mit. Einer der Brasilianer legte seine Rassel zur Seite und überredete ein Mädchen zum Tanz. Schlangengleich wiegten sich seine Arme, in unfassbarem Tempo schüttelte er die Schultern. Verlegen versuchte sie ihm zu folgen, doch beim Anblick seiner kreisenden Hüften kam sie vollends aus dem Takt.
Chloé war nicht unter den Zuschauern. Und auch Jean-Baptiste fehlte. Vermutlich, dachte Daphne missmutig, hatte ihr Vater sie zu sich gerufen und überschüttete sie mit Geschenken. Denn um Mitternacht würde Bankier Guntlisberger mit seinem alten Freund Flamand auf die Terrasse treten und mit stolzgeschwellter Brust die Verlobung ihrer beider Kinder verkünden.
Der Gedanke nahm Daphne die Freude an den Trommeln.
Von allen Dingen, um die sie ihre Schwester beneidete, stand Jean-Baptiste an erster Stelle. Jean-Ba, wie sie ihn bei sich nannte, war gutaussehend, fuhr den schicksten Sportwagen der Stadt und würde einmal den florierenden Gewürzhandel seines Vaters übernehmen. Er zählte zu den begehrtesten Junggesellen. Und er hatte sich auf der Stelle in Chloé verliebt.
"Chloé bekommt immer alles und ich nichts," beklagte Daphne sich wohl zum tausendsten Mal bei Joséphine. "Warum kann ich nicht an ihrer Stelle sein? Wenn sie nicht wäre, würde Jean-Ba vielleicht mich heiraten. Papa und Monsieur Flamand würden uns ein Haus kaufen. Jean-Ba würde mir schöne Kleider schenken und abends würden wir mit seinem Sportwagen in die schicken Nachtclubs fahren und alle würden mich beneiden... "
Joséphine lächelte ihr Marmorlächeln.
"Du bist auch keine Hilfe", brummte Daphne ungehalten und sprang vom Brunnenrand. Sie schlug den Weg zum See hinunter ein. Dort stand das Bootshaus, ihre heimliche Zuflucht.
Doch heute war ihr Versteck besetzt. Sie schlich vorsichtig an das erleuchtete Fenster. Es stand offen. Jemand lachte. Daphne spähte in den einzigen Raum. Ein dunkelhaariger Mann hatte die hohen Anglerstiefel ihres Vaters angezogen und machte Anstalten, recht ungeschickt eine Angel auszuwerfen. Aus der Ecke, in die er zielte, kam ein Kichern.
Der Eindringling verhedderte sich in der Angelleine und trat einen Schritt zurück. Der Schein der Laterne fiel auf sein Gesicht und Daphne erkannte einen der Sambatrommler.
"Deus!" lachte er und weiße Zähne blitzten in seinem sonnengebräunten Gesicht, "warum ist so lang dieser Schnur?"
Dagoberto. Daphne erinnerte sich, dass einer der Musiker seine Kollegen vorgestellt hatte und diesen Namen hatte sie sich gemerkt, weil er so lustig klang. Sollte er nicht auf der Wiese stehen und trommeln? Dafür wurde er schließlich bezahlt. Sie rümpfte die Nase.
Dagobertos Angebetete kicherte wieder unsichtbar in ihrer Ecke.
Daphne fragte sich, welches der Dienstmädchen seinem Charme erlegen sein mochte. Marie? Jeannette? Sie hoffte, es wäre Marie. Die hätte die längste Zeit ein hochmütiges Gesicht gezogen, wenn Daphne wieder einmal geschickt wurde, bei der Flickarbeit zu helfen. Eine kleine Andeutung nur über einen gewissen brasilianischen Trommler, ein kleiner Hinweis, dass Maman sicher nicht erfreut wäre, davon zu erfahren, und Marie könnte fortan alleine Socken stopfen und schadhafte Nähte ausbessern.
Dagoberto lehnte die verhedderte Angel an die Wand und stieg aus den Stiefeln.
"Komm, meu amor", sagte er und zeigte auf die Tür, die zu den Ruderbooten führte, "gehen wir in Boot? Ich mache... wie sagt man?" Er vollführte ein paar imaginäre Paddelschläge. "Ich fahre Boot."
Daphne verließ schnell ihren Platz am Fenster und zog sich leise in den Schatten zurück. Hier war das Seeufer felsig und dicht bewachsen. Zwischen den Büschen kauernd hörte sie Türenklappern und Stimmen, konnte die Worte durch die Holzwand aber nicht verstehen. Dann schob sich langsam ein Boot aus dem offenen Teil des Hauses wie aus einem dunklen Rachen. Zuerst erschien Dagoberto, der sich mit einem Ruder vom Steg abstieß. Stück um Stück manövrierte er das Boot aus dem Schutz des Hauses, Zentimeter um Zentimeter glitt es in Daphnes Blickfeld.
Die Frau stand auf der hinteren Bank. Sie hatte die Arme ausgebreitet, um das Gleichgewicht zu halten, in einer Hand hielt sie ihren Hut. Blonde Locken schmiegten sich eng um ihr Gesicht. Dagobertos letzter Stoß gegen den Steg brachte das Boot heftig zum Schwanken, sie schrie auf und fiel in einer Wolke blutroter Seide in seine Arme. Lachend rappelte sie sich auf und streckte eine Hand nach ihrem Hut aus, der im Wasser schwamm, doch der Trommler zog sie mit sich auf den Boden des Boots.
Daphne hatte sich zu weit vorgelehnt. Ein Stein rollte die Felsen herab und platschte ins Wasser. Schnell zog sie sich in die Dunkelheit des Dickichts zurück.
"Was war das?" Die Frau hob ihren Kopf über den Bootsrand und spähte zum Ufer hinüber.
"Nada." Ein Arm schlang sich um ihren Hals, aber sie beachtete ihn nicht.
"Ich habe etwas gehört. Wenn uns nun jemand sieht! Ich muss verrückt sein!"
"Da ist keiner." Der Arm versuchte sie herabzuziehen, aber sie schüttelte ihn ab.
"Hör auf, Dago. Ich meine es ernst. Wir können hier nicht bleiben."
"Náo problema, meu amor." Ihr Begleiter strich ihr über die Wange. "Wir fahren auf See, ja? Ich rufe Wolke für unser Schutz."
"Eine Wolke?" Sie ließ sich lächelnd auf der Bank nieder und ordnete ihr Kleid. "Wo willst du sie denn hernehmen? Der Himmel ist klar."
"Nicht vom Himmel", sagte Dagoberto ernsthaft und griff nach den Rudern. "Kommt vom See. Nevoeiro. Wie sagt man? Nebel? Ich rufe und Oxum schickt Nebel. Oxum ist Wassergott. Wasser beschützt mich. Gibt mir von seinem Leben, wenn ich von meinem gebe, verstehst du?" Er lächelte sie vielsagend an. "Aber Oxum ist auch Gott von Liebe."
Daphne hörte seinen letzten Satz nicht mehr. Sie war rückwärts aus dem Dickicht gekrochen und rannte bereits den laternengeschmückten Weg zum Haus herauf.
Ihre Mutter hatte die Pause der Musiker genutzt, um den rauchgeschwängerten Salon zu verlassen und ein wenig frische Luft zu schnappen. Sie stand auf dem Rasen bei Joséphine und unterhielt sich mit Jean-Baptiste.
"Maman", stieß Daphne hervor, "Maman, ich muss mit dir reden!"
"Nicht jetzt, Daphne. Wie du siehst, unterhalte ich mich."
"Aber Maman..."
"Daphne!" Ihre Mutter sah sie scharf an. "Du hast gehört, was ich gesagt habe." Ihr Blick wanderte über Daphnes Kleidung. Rock und Bluse waren zerknittert, ein Blatt hing im Spitzenbesatz des Ärmels, die Schuhe waren dreckig.
"Mon Dieu! Was hast du nun schon wieder angestellt! Du gehst sofort auf dein Zimmer und bleibst dort für den Rest des Abends!"
"Nein, Maman, bitte..."
"Keine Widerrede! Ich hatte dir klar und deutlich gesagt, du kannst an diesem Fest teilnehmen, wenn du bereit bist, dich dementsprechend zu betragen. Ich werde nicht zulassen, dass du Chloés Verlobung störst. Es geht hier um deine Schwester, nicht um dich."
"Ja", fauchte Daphne, "es geht um Chloé! Immer geht es um Chloé! Und willst du wissen, wo sie jetzt gerade ist, deine feine Chloé?"
"Nicht in diesem Ton!" warnte ihre Mutter, aber Jean-Ba schnitt ihr das Wort ab.
"Was willst du damit sagen, Daphne?" Seine Stimme klang alarmiert.
"Dagoberto", sagte Daphne triumphierend. "Einer von den Dschungeltrommlern. Er rudert eure kostbare Chloé gerade auf den See hinaus."
"Er hat sie entführt?" Jean-Ba wurde kreidebleich.
Maman griff sich ans Herz.
"Was hat er ihr angetan?! Mon Dieu, was hat er meinem Kind angetan?"
Daphne kam nicht mehr zu einer Antwort. Ihre Mutter lief bereits mit gerafftem Kleid über den Rasen, Jean-Baptiste dicht auf ihren Fersen. Daphne stürzte ihnen nach. Um nichts in der Welt wollte sie verpassen, wie ihre Schwester von ihrem Sockel fiel. Maman würde vor Schreck in Ohnmacht fallen. Und Jean-Ba... Jean-Ba war nun wieder frei.
Das Bootshaus ragte dunkel vor ihnen auf. Maman eilte den Steg entlang zum Wasser. Leise platschend schlugen die Wellen ans Ufer. Die Nacht war sternenklar und still, die Luft noch warm von der Sommersonne, doch Daphne fröstelte und verschränkte die Arme vor der Brust.
"Schaut", flüstere Maman.
Über dem See lag Nebel. Nicht weit vom Ufer erhob er sich wie ein schützender Wall und verbarg die Seemitte vor ihren Blicken. Ein Stück vom Steg entfernt schwamm etwas Dunkles auf den sanften Wellen. Es hatte die Form eines Huts und glitzerte rot im Mondlicht.
"Sie sind dort drinnen", sagte Daphne und wies auf die grauweiße Wand vor ihnen.
"Aber wo kommt der Nebel her?" fragte ihre Mutter.
Trommelklänge wehten vom Haus herab. Die Musiker hatten ihre Pause beendet.
"Kommt", erklang Jean-Bas Stimme hinter ihnen. Er hatte das zweite Boot an den Steg zu ihren Füßen manövriert. "Wir müssen sie suchen."
Im Bug sitzend spähte Daphne mit klopfendem Herzen der Nebelwand entgegen. Neben ihr stand die Laterne, die Chloé und ihr Geliebter im Bootshaus zurückgelassen hatten. Auf der hintersten Bank kauerte ihre Mutter, bleich und angespannt, eine Hand in den Spitzenkragen ihres hochgeschlossenen Kleides gekrallt. Zwischen den Frauen sitzend passte Jean-Ba seine Ruderschläge unwillkürlich dem Rhythmus der Trommeln an.
Schlag um Schlag rückten die wabernden grauen Massen näher. Trommelwirbel um Trommelwirbel schob sich das Boot über das nachtschwarze Wasser, zwei Wellen vor, eine halbe zurück, wieder zwei Wellen vor.
Daphne holte tief Luft. Einen Moment ragte noch der Schutzwall vor ihr auf, schien die Mauer undurchdringlich, dann teilte der Bug die wabernden Massen und der Nebel griff nach ihr, strich über ihr Gesicht, tastete sich kühl und feucht an ihren Beinen hinauf. Silbergrau umschloss sie die Wolke, weiße Schwaden legten einen Schleier feinster Tropfen auf ihre Haut. Sie schauderte. Es war zu hell. Kein Licht, kein Leuchten, nur ein dunstiger Glanz ohne Quelle, in dem sich die Nebelschleier wiegten. In der Ferne verklangen die Trommeln. Schweigen senkte sich herab, selbst die Paddelschläge klangen gedämpft.
Jean-Bas Rücken bewegte sich vor und zurück, doch das Boot schien stillzustehen. Maman war nur ein Schatten im wabernden Grau. Daphne hob die Laterne und leuchtete ins Nichts.
"Lasst uns umkehren", flüsterte sie. "Dieser Nebel..."
"Still!" Jean-Ba hielt in seiner Bewegung inne. Das Boot schaukelte sanft. Schwerfällig schwappte das Wasser gegen das Holz. Maman saß kerzengerade. Sie horchten hinaus in die gespenstische Stille.
"Da!" flüsterte Jean-Ba.
Eine Stimme drang gedämpft durch den Nebel.
"Das war Chloé!" Er begann wieder zu rudern.
Daphne hob die Laterne höher und spähte in die Schwaden. Schleier zogen an ihrem Gesicht vorbei. Sie kniff die Augen zusammen. Vor ihr schien sich der Nebel zu verdichten. Woge türmte sich auf Woge, ballte sich zusammen. War da eine Silhouette im endlosen Grau? Erhob sich dort etwas auf dem Wasser? Etwas dunkles, langes, flaches...
"Jean-Ba", flüsterte sie und nannte ihn unbewusst bei diesem Namen, "dort ist etwas..."
Das Boot glitt eine halbe Paddellänge nach vorn und durchtrennte die letzten Nebelschleier. Holz prallte dumpf auf Holz, als der Bug gegen die Seitenwand eines anderen Bootes stieß. Die Laterne fiel in den Rumpf und zerbrach. Maman stieß einen spitzen Schrei aus. Daphne klammerte sich an die schaukelnde Bank und starrte auf die beiden Gestalten in dem anderen Boot. Hier im Zentrum der Wolke war die Luft klar und trocken, der Nebel waberte um sie herum, berührte sie aber nicht. Das geisterhafte Licht tauchte die nackten Arme des Mannes in silbrigen Glanz, überzog Schultern, Rücken, Beine, als er sich mühte, auf die Füße zu kommen und gleichzeitig die Hose hochzuziehen. Maman stieß einen weiteren Schrei aus. Er drehte sich hüpfend im schwankenden Boot, suchte seine Blöße zu verstecken und wandte ihnen das nackte Hinterteil zu. Seine Begleiterin hatte sich aufgesetzt. Sie hielt ihr Kleid mit einer Hand über der Brust zusammen.
"Chloé!" Jean-Bas Stimme überschlug sich. Er hatte ein Paddel aus seiner Halterung gerissen.
Chloé kam schwankend auf die Füße. Ihr Kleid rutschte herab und blieb an den Hüften hängen. Daphne sah, wie Jean-Ba einen Moment innehielt und ihre Schwester anstarrte. Dann fiel sein Blick wieder auf Dagoberto, der hektisch seine Hose schloss, und sein Gesicht verzerrte sich vor Zorn. Er holte zu einem mächtigen Schlag gegen den Kopf des Trommlers aus. In Zeitlupe sah Daphne Chloés Hand auf die Schulter ihres Geliebten fallen. Dagoberto wandte den Kopf und riss die Augen auf.
Etwas Dunkles schoss aus dem Wasser. Tentakel peitschten über den Bootsrand, griffen nach Jean-Bas Bein, versuchten ihn mit sich in die Tiefe zu reißen. Das Ruder rutschte ihm aus der Hand. Krachend traf es Dagoberto an der Schulter. Die schlangengleichen Arme fielen platschend ins Wasser zurück, der Bootsrand schnellte wieder hoch. Maman klammerte sich an ihre Bank, doch Daphne war in den Rumpf gerutscht. Sie zog sich hoch und schwang ein Bein über die Ruderbank. Um das Boot herum stiegen Blasen auf. Das Wasser begann zu brodeln, dann wölbte es sich empor.
"Mon Dieu !" Mamans Stimme wurde schrill. "Mon Dieu, es kommt zurück, es..."
Zischend schnellten die Tentakel erneut über den Bootsrand. Angstvolle Schreie hallten durch die Nacht. Irgendwo, in einem verborgenen Winkel ihres Bewusstseins, registrierte Daphne, dass sie es war, die schrie. Einer der Arme glitt auf ihre Mutter zu, griff nach dem Kleid, schlängelte sich über ihre Beine. Die Hände an die Brust gepresst sog Edwige mit einem pfeifenden Geräusch die Luft ein, dann sank sie hintenüber.
"Maman!" Bevor der Kopf ihrer Mutter auf dem Bootsrand aufschlagen konnte, riss Daphne sie am Arm nach vorn. Doch sie verlor den Halt. Edwige begrub sie unter sich, während Daphne spürte, wie sich ein kalter Fangarm um ihren Fuß ringelte. Blind trat sie danach.
"Jean-Ba!" Sie schluchzte verzweifelt. "Jean-Ba, hilf mir!"
Keine Antwort. Über das Platschen des Wasser hörte sie ein Keuchen. Oder war es ihr eigener Atem? Hatten die Tentakel Jean-Ba über Bord gezogen und waren zurückgekommen, um sie zu holen? Panisch versuchte sie sich unter dem Gewicht ihrer Mutter am Bootsrand hochzuziehen. Endlich konnte sie den Kopf drehen. Sie seufzte vor Erleichterung, als sie Jean-Ba im Bug sah. Doch er war in arger Bedrängnis. Die Tentakel konzentrierten jetzt ihre Angriffe allein auf ihn. Daphne sah ein Messer in seiner Hand aufblitzen, als er auf die Fangarme einstach. Ein Anglermesser. Er musste es aus dem Bootshaus mitgenommen haben. Keuchend stieß er die Klinge in einen Tentakel, riss sie heraus, stieß erneut zu, wieder und wieder. Blut klebte an seinen Händen und Armen, tropfte auf das nasse Holz.
"Vorsicht, Jean-Ba!" schrie sie. "Hinter dir!"
Jean-Ba zuckte herum. Ein dünner Fangarm reckte sich nach seinem Hals. Er griff mit einer Hand danach, schwang mit der anderen das Messer. Blut spritzte auf sein Gesicht, dann fiel die abgetrennte Tentakelspitze zuckend in seinen Schoß. Es stank nach Fisch. Sofort griffen die nächsten Tentakel nach seinen Armen und Beinen.
Sie musste ihm helfen! Wenn das Monster Jean-Ba erledigt hätte, würde es sich an sie erinnern und dann...
Verzweifelt versuchte Daphne, sich vom Gewicht ihrer Mutter zu befreien, doch sie war eingeklemmt. Angsterfüllt beobachtete sie Jean-Bas Kampf. Langsam schien er die Oberhand zu gewinnen, schienen die Angriffe schwächer zu werden.
Ihr Blick fiel auf das andere Boot, das unbeachtet von den Fangarmen auf den Wellen schaukelte. Dagoberto hatte den Kopf in den Schoß ihrer Schwester gelegt. Daphne sah sein blutiges Gesicht. Das Ruderblatt musste ihm den Kiefer zerschlagen haben. Tränen liefen über Chloés Wangen. Sie saß aufrecht, das Kleid fiel in Falten über ihre Beine, ihr Oberkörper war nackt. Der unwirkliche Glanz legte einen marmornen Schimmer auf ihren gesenkten Kopf, ihre Schultern, Arme und Brüste. Im Chaos des brodelnden Wassers, inmitten von Blut und Kampf schien sie gehüllt in steinerne Schönheit. Sie war makellos, wie Joséphine.
Hass stieg in Daphne auf.
Dagoberto streckte schwach einen Arm nach dem anderen Boot aus. Aus seinem Mund floss Blut. Daphne folgte dem Blick ihrer Schwester, der zwischen den Jean-Ba und Dagoberto hin und herirrte. Dann sah sie es auch. Bei jedem Hieb, den Jean-Ba machte, zuckte Dagobertos Körper, drang ein neuer Schwall Blut aus seinem Mund.
Daphne schauderte. Sie hörte wieder die Worte, die der Brasilianer zu Chloé gesprochen hatte: "Wasser beschützt mich. Gibt mir von seinem Leben, wenn ich von meinem gebe."
Chloé musste zur selben Erkenntnis gekommen sein. Sanft hob sie Dagobertos Kopf an, stand auf und bettete ihn auf die Bank. Sie zerrte ein Ruder aus der Halterung, suchte einen sicheren Stand und holte aus. Daphne schrie, doch es war zu spät. Mit einem dumpfen Laut prallte das breite Ruderblatt auf Jean-Bas Kopf und er sackte zusammen.
Die Tentakel ließen von ihm ab und fielen zurück in den See. Das Boot kippte ein letztes Mal, dann wurde das Schaukeln schwächer. Daphne zerrte wieder verzweifelt an ihrer Mutter, versuchte sie von sich zu schieben, aber ohne Erfolg. Sie reckte den Hals nach Jean-Ba. Er rührte sich nicht.
"Nein", hörte sie ihre Schwester schluchzen, "Dago, du kannst ihm nicht helfen, bitte..."
"Muss mitgehen", flüsterte ihr Geliebter, der seinen Kopf mühsam über den Bootsrand geschoben hatte. Ein Arm hing ins Wasser. Um das Handgelenk schlängelte sich matt ein blutender Tentakel. "Hat gegeben von sein Leben für mich. Jetzt ich gebe zurück."
"Nein, Dago!" Chloé fasste nach seiner Schulter. Er stöhnte auf und sie ließ ihn los, sank neben der Bank auf die Knie. Dago hob langsam die Hand und legte sie an ihr Gesicht.
"Ist nicht mehr genug Leben für zwei. Nicht genug Kraft. Aber vielleicht reicht Kraft für einen. Oxum schützt mich und hilft. Aber jetzt ich muss bezahlen."
"Wir wollten doch fortgehen", flüsterte sie und drückte seine Finger an ihre Wange. "Nach Frankreich, dann Spanien, immer nach Süden, und eines Tages hinüber nach Afrika..."
"Náo, meu amor. War schöne Traum."
Chloé weinte.
"Geh nicht fort. Lass mich nicht allein. Dago..."
"Werde sein bei dir." Dago legte ihrer beider Hände auf ihr Herz. "Hier. In dein... Coracao. Wie sagt man?"
"Herz", flüsterte Chloé.
"In dein Herz. Und in Wolke. Wolke wird dich schützen. Aber jetzt muss gehen." Ein letztes Mal strich er über ihre tränennasse Wange. "Bitte. Chloé, meu amor. Hilf mir."
Chloé schloss für einen Moment die Augen. Ihr Gesicht war blass. Dann half sie Dagoberto, sich aufzusetzen und langsam an den Bootsrand zu rutschen. Sie hob seine Beine auf die Ruderbank. Das Boot neigte sich. Sie kauerte sich neben ihm nieder und schlang vorsichtig ihre Arme um ihn. Sein Kuss hinterließ eine blutige Spur auf ihren Lippen. Sie fuhr mit der Zunge darüber und sah ihn noch einmal an. Dann gab sie ihn frei.
Daphne sah ihn fallen. Langsam neigte sich sein Körper über den Bootsrand, schien einen Moment zu verharren. Tentakel reckten sich ihm entgegen, hießen ihn willkommen. Kein Wasser spritzte. Seltsam still glitt Dagoberto in die Tiefe. Das Boot schaukelte nur schwach. Der See nahm ihn auf, als habe er schon immer dorthin gehört.
Chloé war auf die Ruderbank gesunken. Sie weinte. Ihr Blick glitt über das Wasser, das andere Boot, über Jean-Ba, über Maman, und blieb schließlich an ihrer Schwester hängen.
"Du bist erledigt, Schwester", sagte Daphne triumphierend. "Das gibt einen feinen Skandal."
Chloés Gesicht war leer. Geistesabwesend zog sie die Träger ihres Kleides über die Schultern hinauf. Sie legte das Paddel wieder in die Halterung, strich sich die Locken aus der Stirn und begann zu rudern.
Daphne atmete langsam aus und sah zu, wie das Wasser Chloé davontrug. Bald war sie nur noch ein roter Fleck in der Dunkelheit. Der Nebel ging mit ihr. Schleier um Schleier erhob sich, stieg auf und nahm seinen Platz ein in der Wolke über Chloés kleinem Boot.

 

© Carolin Schlipf MMI