An-Nadima

 

Seht, dort erhebt sie sich, flirrend über dem heißen Sand. Eine Ansammlung rötlicher Flächen und Ecken, Würfel und Quader, mal kleiner, mal größer, manche gar hochkant. In der Mitte erhebt sich der Palast. Es ist kein großer Palast, kein verwinkeltes Märchenschloss, doch er besitzt vier Türmchen an den Ecken und einen mit Steinbänken geschmückten Innenhof. Der Palast ist umgeben von achtundzwanzig schlichten Häusern, die ihn wie eine Kette identischer Perlen umringen und nur eine Lücke vor dem Haupteingang offen lassen. Dort wölbt sich ein Bogen über die staubige Straße, der einst Bab-al-Amal genannt wurde, das Tor der Hoffnung. Die Inschrift ist verwittert, nur Bruchstücke sind noch zu entziffern. Bi-Intizari-l-Amir wa ashabihi, steht dort: In Erwartung des Fürsten und seiner Gefährten. Jenseits des Tores ist es mit der Ordnung vorbei, die Gassen sind schmal und krumm, die Häuser ein Durcheinander aus Formen und Stilrichtungen. Verzierte Fassaden mit verschlungenen Ornamenten grenzen an schmucklose Sandsteinmauern, breite Erker recken sich in gefährlichem Winkel ihren Nachbarn entgegen, geschwungene Fenster, glatte Torbögen, seltsam geformte Plätze brüten in der Hitze und in der vollkommenen Stille. Ein Skorpion kriecht die Dachkante des Palastes entlang, sonst bewegt sich nichts. Wie ausgestorben scheint die Stadt. Doch das ist ein Irrtum, denn um auszusterben, muss man gelebt haben. Hier verrotten keine zurückgelassenen Möbel, nirgendwo liegt ein zerbrochener Krug. Die Häuser sind leer: der Palast ebenso wie die achtundzwanzig Würfel der Perlenkette und das Gewirr der einhundertachtundsiebzig Bauwerke, das sie umgibt. Noch immer liegt ein letzter Hauch von Erwartung über der Stadt, und noch immer trägt sie ihren Namen zu Recht: An-Nadima, die Reumütige.

 

Bald werden sie kommen. Mal kleine Familien auf fünf Meharis mit einer Handvoll Ziegen, mal ganze Sippen in glöckchengeschmückten Karawanen, ihre Herden von Staubwolken verfolgt. Sie werden ihre Zelte aufschlagen, fünfhundert Schritte vor dem westlichen Tor, und während die Frauen die Kochfeuer schüren und den Tee bereiten, werden die Männer die Stadt umrunden, in gebührendem Abstand, und in Gruppen fachsimpeln: Wo ist der beste Platz in diesem Jahr? Dort drüben, neben dem flachen Haus mit den halbrunden Fenstern? Oder doch auf der anderen Seite der Stadt, wo der Untergrund leicht abfällt, unweit der prachtvollen Villa mit dem Innenhof und den drei Türmchen, die der Herr voller Übermut im Jahr des großen Regens errichten ließ, als die Herden fetter waren als je zuvor und sie kein einziges Jungtier verloren? Und was ist mit dem freien Platz im Inneren der Stadt, schräg vor dem Bab-al-Amal? Wirkt er nicht wie eine Zahnlücke, die gefüllt werden müsste? Sicher, es ist eine recht kleine Lücke. Aber mit ein wenig Planung... Vielleicht ein schlanker, hoher Turm, eine schmale Treppe und ein Zimmer pro Stockwerk? Man müsste den Platz ausmessen.
Doch niemand betritt die Stadt. Sie kehren zurück zu den Zelten, den Frauen, dem Tee, dann waschen sie sich Gesicht, Hände und Füße für das Abendgebet. Wer sich diesseits des Westtores gen Mekka in den Staub wirft, der verneigt sich auch vor An-Nadima, der Reumütigen.
Am dritten Abend des Ramadan wird Fachr-ad-Din ibn Uthman eintreffen und wie jedes Jahr sein Zelt auf dem erhöhten Platz aufschlagen, den man ihm freihält, unbelästigt von den Kochfeuern  der anderen. Am vierten Ramadan wird er sein Mehari satteln, direkt nach dem Morgengebet. Er wird die Leinen der Packtiere seinen Söhnen zuwerfen und seine Männer zwischen die Felsen jenseits der Stadt führen. Bis zum Steinbruch ist es ein Ritt von zwei Stunden. Schon immer holen die Banu Uthman dort den Sandstein, seit jenem vierten Tag des Ramadan, als Uthman al-Batisch den ersten Stein brach um den Palast und die Perlenkette zu errichten, in der Hoffnung, der Bruder, den er vertrieben hatte, möge zurückkehren, zusammen mit den achtundzwanzig Getreuen, die mit ihm den Stamm verließen.

 

Am fünften Ramadan ist die Zeit gekommen, An-Nadimas Schweigen zu brechen. Die Männer führen die schwer beladenen Meharis, dann folgen die Frauen. Sie tragen Besen, die sie aus dem dürren Gestrüpp gebunden haben, das verstreut auf der Ebene wächst. Die Kinder laufen nebenher, nur ein paar werden zurückgelassen, um die Herden auf ihrer Suche nach karger Nahrung zu begleiten.
Fachr-ad-Din wird als erster die Stadt betreten und sich dem Platz zuwenden, den er für die Buße dieses Jahres ausgewählt hat. Er wird feierlich den ersten Stein in den Staub legen und seinen Männern das Haus beschreiben, das sie dieses Mal bauen werden. Die Frauen werden beifällig nicken und sich dann ebenfalls an die Arbeit begeben: So viele Zimmer, so viele Häuser gilt es zu fegen. Doch sie haben keine Eile, der Ramadan ist lang.
An seinem Ende wird sich ein weiteres Haus zwischen die anderen drängen, vielleicht schlicht und einfach, vielleicht reich geschmückt, auf jeden Fall aber vollkommen leer.
Dann ziehen die Banu Uthman wieder davon und überlassen An-Nadima einem weiteren Jahr des Schweigens und der Erwartung, die keine mehr ist.

 

 

 

© Carolin Schlipf MMV